Petra Morsbach, Arno Schmidt und die Wut

Statt Hausarbeiten zu korrigieren und zu benoten, habe ich mich in Petra Morsbachs neuem Roman „Justizpalast“ festgelesen, der es seltsamerweise noch nicht einmal auf die sogenannte Longlist zum Deutschen Buchpreis schaffte. Er ist nicht nur, aber auch ein moderner Pitaval: eine Sammlung von ‒ im doppelten Wortsinn: merkwürdigen ‒ Rechtsfällen. Petra Morsbach lenkt dabei die Aufmerksamkeit des mitdenkenden Lesers unter anderem auf die in Rechtsstreitigkeiten waltenden Affekte aller Beteiligten (einschließlich der Richter). Besonders interessant erscheinen mir dabei Fälle, in denen einem diese Affekte, die das Rechtssystem ja bändigen soll, so berechtigt erscheinen wie die Wut des Michael Kohlhaas bei Kleist über das willkürliche und sinnlose Schinden seiner Pferde.

 

Für solche Wut gibt es geringere Anlässe, wie ich, mich an Arno Schmidts Erzählung „Schwarze Spiegel“ erinnernd, bei ihm gerade nochmals mit viel Vergnügen nachgelesen habe. Diese Erzählung geht, ausschnitthaft zusammengefaßt, so: Der Ich-Erzähler stößt zufällig auf eine Nummer des „Reader’s Digest“, in der sich ein Beitrag eines US-amerikanischen Professors findet. Schmidts Ich-Erzähler macht darin nur lauter Unsinn aus, was ihn in fürchterliche Wallungen versetzt: „Ich schmiß das Reader’s Digest an die Wand, hieb ein Papier in die Tippa und knatterte los (oh, war ich wütend!).“

 

Er tippt dann eine Wortmenge, die kaum ein wütender Facebook-Poster zustande bringt und in meiner Ausgabe (es ist die leider sehr fehlerhafte achtbändige, die 1985 bei Haffmans erschienen ist) nicht weniger als viereinhalb Seiten füllt (von S. 217 bis S. 221). Der Brief endet dann: „Möge Ihre Wasserspülung stets funktionieren; in aufrichtiger Verachtung:“ Von einer Unterschrift ist nicht mehr die Rede. Statt dessen erfahren wir: „Falten, kouvertieren; 30 Pfennig laut Tradition drauf geklebt und per Rad zum Briefkasten unten im Dorf geschafft: so ein Salzknabe! (Und noch auf dem Rückweg entrüstete ich mich alle hundert Meter.“

 

Man muß dazu wissen, in welcher Lage sich der Ich-Erzähler befindet. Er ist nämlich (zumindest vorläufig) der einzige Überlebende nach einem Atomkrieg. Seine Wut und ihre Entladung haben somit im Binnenraum der erzählten Welt zwar einen Adressaten, aber keinen Empfänger. Da der Ich-Erzähler dem Autor zum Verwechseln ähnelt, ist das natürlich herrliche Selbstironie (wirkt jedenfalls so). Trotz dieser Relativierung bleibt die Sympathie des Lesers (zumindest meine) auf Seiten des Ich-Erzählers (und des Autors sowieso), genauso wie (zumindest am Anfang) bei Michael Kohlhaas.

 

Kohlhaas entfesselt dann freilich einen Bürgerkrieg, weil er sein Recht nicht bekommt bzw. weil es keinen funktionierenden Rechtsstaat gibt. Für friedliebende Menschen wie mich geht das, zumal wenn ich den Anlaß bedenke, dann doch zu weit, verstehe aber wiederum, daß Kohlhaas es bei einem Brief wie Arno Schmidts Alter Ego nicht belassen mag. Die aktuellen Bezüglichkeiten liegen auf der Hand, doch was folgt aus den literarischen Beispielen? Zunächst: Affekte sind nicht grundsätzlich etwas Schlechtes, auch Wut nicht. Sodann: Es ist gut, wenn es einen Rechtsstaat gibt, der tatsächlich funktioniert.

 

Darüber, wie er funktioniert, lese ich jetzt weiter bei Petra Morsbach. (Darüber demnächst mehr.)