Rolf Peter Sieferles „Epochenwechsel“

Der Landtverlag hat eine zehnbändige Ausgabe der Werke Rolf Peter Sieferles angekündigt, deren erster Band jetzt erschienen ist. Dabei handelt es sich um die bislang unveröffentlichte Überarbeitung des 1994 erstmals bei Propyläen erschienen Buchs „Epochenwechsel“. Im Nachwort zieht Thomas Hoof ein vor allem energiepolitisches Resümee aus Sieferles Argumentation mit Ausblick auf die Zukunft: Das Ende der fossilenergetischen Epoche sei nicht nur zwangsläufig, sondern auch empirisch feststellbar. Das Umstellen auf sogenannte regenerative Energien (Photovoltaik, Windenergie) liefere keine Alternative, denn der Energieaufwand zur Errichtung und Erhaltung des Energiesystems sei so hoch, daß er „sich gegenüber seinen Erträgen in spätestens zwanzig Jahren selbstverzehrend verhalten wird. Es liefert dann eben keine Mengen mehr, die für eine konsumptive oder investive Verwendung zur Verfügung stehen.“ Wenn diese Prognose auch nur der Tendenz nach richtig ist, gehörte die gegenwärtige deutsche Energiepolitik nicht nur in Frage gestellt, weil es noch gar keine Speichermedien gibt, die es gestatten, bei einer naturgemäß nicht mehr kontinuierlichen Energiegewinnung in großem Umfang eine kontinuierliche Energieversorgung und damit den Fortbestand des Industriestandorts Deutschland sicherzustellen.

 

Zu ähnlich brisanten Überlegungen kann man kommen, wenn man Sieferles Argumente nachvollzieht, aus denen der Universalismus nicht nur Grenzen habe, sondern in sein Gegenteil umschlage, wenn er nur konsequent genug verfolgt werde. Man kann das etwa an der gegenwärtigen Identitätspolitik zeigen: Prinzipiell läßt sich nicht begründen, warum die Menschenrechte nicht nur gebieten sollten, selbst Menschen mit schwerster geistiger Behinderung inklusiv zu beschulen, sondern auch gleich die Diskriminierung aller Lebewesen zu unterbinden und also für die rechtliche Gleichstellung von Tieren und Menschen zu sorgen. Entsprechende Forderungen gibt es schon seit längerem; der australische Bioethiker Peter Singer erhebt sie, und es gibt immer mehr Tierschützer, die sie sich zu eigen machen.[1]

 

Bevor die rechtliche Gleichstellung von Menschen und Tieren erfolgt, hätte ein konsequenter Universalismus selbstverständlich für die faktische Gleichbehandlung aller Menschen zu sorgen. Das hieße zum Beispiel, jeden Menschen in Europa leben zu lassen, der in Europa leben will. Allen Menschen in Europa, die soziale Grundsicherung begehren, wäre sie dann auch zu bewilligen. Mehr noch: „Jede unfreiwillige Differenz im Zugang zu Konsumgütern und Genußchancen“, so Sieferle, „fiele unter das Diskriminierungsverbot, bis hin zur Ablehnung des ‚lookism‘, so daß die Häßlichen ebenso attraktive Sexualpartner finden müßten wie die Schönen.“ Zumindest das letzte Beispiel, könnte man einwenden, sei zugespitzt und absurd (obwohl es tatsächlich eine Anti-Lookismus-Bewegung gibt[2]). Sieferle nimmt diesen Einwand indes vorweg und antwortet, daß an extremen Beispielen eben deutlich werde, „daß der zu Ende gedachte egalitäre Universalismus schon im Selbstvollzug seiner eigenen Tendenzen zu absurden, selbstauflösenden Konsequenzen führt.“

 

Die Selbstauflösung geht ‒ wie gesagt ‒ bis hin zum Umschlag ins Gegenteil. Denn öffnete man tatsächlich in Europa die Grenzen für jeden, hätte dies eine Migrationsbewegung zur Folge, die eine drastische Senkung des materiellen Lebensstandards und die weitgehende, wenn nicht gar vollständige Preisgabe des Sozialstaats erzwingen würde (er ließe sich beim besten Willen nicht mehr finanzieren). Das wäre zweifellos ein Beitrag zur Egalisierung der Lebensverhältnisse auf diesem Planeten, die Europa sehr schnell auch wieder unattraktiv für Migranten machen würde. Mit dem Schwinden des Sozialstaats entstünde zuvor jedoch eine neue Form der Konkurrenzgesellschaft, in der zwar formell rechtlich gleichgestellte, aber tatsächlich unterschiedlich leistungs- und durchsetzungsfähige Menschen um knappe Ressourcen im Wettbewerb stehen. Gewinner dieses Wettbewerbs wären die Stärksten und Skrupellosesten, die im Kampf um Vorteile auf universalistische Rechte mit Sicherheit pfeifen würden.

 

Sieferle lehnt es ab, selbst zu skizzieren, was in einer solchen Lage geboten sein könnte, will man nachhaltige Politik betreiben. Doch die Tragfähigkeit der Prinzipien überhaupt erst einmal zu durchdenken, die politisches Handeln derzeit leiten bzw. verleiten, ist eine Leistung, die nicht hoch genug zu schätzen ist. Wo und von wem würde sie derzeit sonst erbracht?

 

Rolf Peter Sieferle: Epochenwechsel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Landtverlag 2017. 500 Seiten. 34 Euro.

 

Eine Bestellmöglichkeit gibt es hier: https://www.manuscriptum.de/epochenwechsel.html.

 

 

[1] https://www.welt.de/wissenschaft/article2294376/Tierschuetzer-fordern-Menschenrechte-fuer-Tiere.html.

[2] https://hpd.de/node/17923.