Inklusion und Menschenrechte

Die Integration lernschwacher und behinderter Kinder in den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen, die mit dem Begriff Inklusion bezeichnet wird, bereitet derzeit Schwierigkeiten, die meist davon ablenken, daß die Schwierigkeiten nicht nur praktischer, sondern prima vista rechtlicher und seconda vista politischer Natur sind.

 

Die rechtliche Seite der Sache ist relativ simpel: Mit der 2006 erfolgten Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde eine Konkretisierung der allgemeinen Menschenrechte vorgenommen, die sich unmittelbar auf die Auslegung des Art. 2 des Grundgesetzes auswirkt, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiert. Damit ist Inklusion nicht mehr eine Frage des Meinens, sondern für den Staat rechtlich verpflichtend und im Fall der Zuwiderhandlung rechtlich sanktionsfähig. Darüber diskutieren zu wollen, erscheint ‒ prima vista ‒ so absurd wie der Versuch eines Schwarzfahrers, mit einem erfahrenen Fahrkartenkontrolleur über Gründe diskutieren zu wollen, die das Fehlen des Fahrscheins ausnahmsweise doch rechtfertigen.

 

Seconda vista handelt es sich aber natürlich um ein Politikum, denn die Behindertenrechtskonvention ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis eines politischen Willens, über den man nicht nur nachdenken, sondern zum Glück auch (noch) diskutieren darf. Dafür ist es sehr nützlich, an den Aufsatz „‘Menschenrechte‘: begriffliche Verwirrung und politische Instrumentalisierung“ von Panajotis Kondylis zu erinnern, den die „Frankfurter Rundschau“ am 20. August 1996 in ihrem „Forum Humanwissenschaften“ veröffentlicht hat und der jetzt leicht greifbar ist in einem Sammelband mit Kondylis-Aufsätzen, der den Titel trägt: „Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung“ (Heidelberg: Manutius 2001).

 

Besagter Aufsatz von Kondylis aus der „Frankfurter Rundschau“ beginnt mit dem herrlich provokativen Satz: „Es gibt keine Menschenrechte.“ (Um das Provokative eines solchen Satzes zu ermessen, muß man sich nur vorstellen, er hätte nicht in der „Frankfurter Rundschau“ gestanden, sondern würde heute von einem Politiker wie, sagen wir: Alexander Gauland in einer Rede zum Besten gegeben. Die mediale Empörung wäre zweifellos unbeschreiblich.) Was Kondylis damit meinte, war indes nicht, daß es keine kodifizierte Fassung von Menschenrechten gebe, sondern daß es Menschenrechte faktisch nur gäbe, wenn sie auch überall ausnahmslos durchsetzbar wären. Und er folgerte daraus:

 

„Es gibt also letztlich keine Menschenrechte ohne uneingeschränkte Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit und ohne automatische Angleichung von allen einzelnen an alle einzelnen infolge der universellen Geltung eines einheitlichen Rechtssystems. Solange der Albaner in Italien nicht über dieselben Rechte wie der Italiener verfügt, darf stricto sensu nur von Bürger-, nicht von Menschenrechten geredet werden.“

 

Das gilt nicht minder stictu senso natürlich auch für die Konkretisierung von Menschenrechten, wie jener durch die Behindertenrechtskonvention. Freilich darf man nicht übersehen, was mit einer solchen Konkretisierung angestrebt wurde. Denn durch Verrechtlichung wurden aus Wünschen Rechtsansprüche, die zumindest in der rechtlichen Praxis in einem Rechtsstaat jeder Debatte über Sinnhaftigkeit und Machbarkeit entzogen sind. Was macht man aber, wenn sich dergestalt verrechtlichte politische Wünsche in der nichtrechtlichen Praxis trotz bestem Willen aller Beteiligten nicht realisieren lassen?

 

Es bietet sich an, auf diese Frage mit einem Zitat aus Kondylis‘ Aufsatz zu antworten und damit fürs erste diese Überlegungen zu beenden: „In nicht allzufernen Jahren kamen solche Hinweise oft aus den ideologiekrischen Laboratorien einer marxistisch geschulten ‚Linken‘, aber diese Inspirationsquelle ist inzwischen versiegt.“