Luhmann und Kafka. Aus Anlaß des 90. Geburtstags von Niklas Luhmann

Vorbemerkung

 Es ist befremdlich, wie sehr die Rezeption der Werke Kafkas davon bestimmt wird, nach biographischen Parallelen zu suchen und zu glauben, im Wiederfinden solcher Parallelen auch einen Schlüssel zu seinem Werk gefunden zu haben. Daß Elemente der eigenen Biographie Kafka nur als Material für Texte gedient haben könnten, um Artistik zu betreiben, und daß das Identifizieren der biographischen Reminiszenzen möglicherweise also völlig nebensächlich ist, kommt Interpreten, deren Tun und Treiben sich in biographischer Spurensuche erschöpft, meist gar nicht erst in den Sinn. Sie zeigen sich, anders gesagt, nicht in der Lage, Kafkas Werke als autonome Kunstwerke wahrzunehmen und zu verstehen.

 

Autonome Kunst oder: Kunst als Subsystem

Einen in ästhetischen Fragen Ratsuchenden ausgerechnet auf Luhmann zu verweisen, erscheint prima vista ebenfalls befremdlich. Luhmann war Jurist, hat sich dann der Soziologie verschrieben. Einen Fachmann für Kunst wird man da nicht vermuten. Der war Luhmann auch nicht, und doch verstand er mehr davon, was Kunst ist, als mancher, der sich hauptberuflich mit ihr beschäftigt. Wie für Schiller und Adorno war Kunst für Luhmann heute autonome Kunst, aber das war sie nicht immer. Ursprünglich war Kunst eine magische symbolische Praxis und erfüllte die Funktion der Weltdeutung und -orientierung. In dieser Funktion wurde sie abgelöst von Religionen, die sich Kunst aber noch educativ zunutze machten. Ihre Aufgabe lag in dieser Zeit, wie Niklas Luhmann schreibt (Die Kunst der Gesellschaft, FFM: Suhrkamp 1997, S. 257), „in der Transmission, [noch] nicht in der Innovation“. Mit dem Autonomwerden der Kunst (in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts) verliert sie ihrer wesentlichen Bestimmung nach ihre educative Bedeutung und wird reiner Selbstzweck (sie wird, wie Schiller das in den „Briefen über die ästhetische Erziehung“ genannt hat, Spiel). Das reflektiert die neu entstehende Ästhetik, die die Rhetorik ablöst.

 

Mit dem Autonomwerden der Kunst wird Kunst zweckfrei und selbstbezüglich, d.h. sie bezieht sich rekursiv auf ihre eigene Geschichte. Sie dient nichts als sich selbst, und künstlerischer Maßstab ist, ob (und wie) sie durch rekursive Bezugnahmen auf die Kunsttradition Innovationen erzeugt. Damit ist sie innerhalb eines gesellschaftlichen Gesamtsystems ein Subsystem, das nach spezifischen Regeln Unterscheidungen vornimmt, die nur in diesem Subsystem relevant sind, in allen anderen (z.B. Recht, Wirtschaft, Religion) nicht.

 

Viel diskutiert wurde Luhmanns Vorschlag, die Besonderheit des Subsystems Kunst dadurch zu kennzeichnen, daß es nach der Leitdifferenz „schön versus häßlich“ operiere. Auch wenn ihm klar war, daß es spätestens seit Baudelaire auch Kunst gibt, die nicht mehr schön ist, hielt er an dieser Leitdifferenz fest, worüber zu streiten aber müßig wird, wenn man Rekursivität als entscheidendes Merkmal reklamiert. Kunst ist dann das, was sich rekursiv auf die bisherige Kunstpraxis bezieht bzw. was sich rekursiv auf sie beziehen läßt.

 

Kafkas Werke als Beiträge zum bzw. im Subsystem Kunst

Lesen wir Kafkas Werke in diesem Sinne als autonome Kunstwerke, dann kann Biographisches nur Material sein, das nicht um des Biographischen willen verwendet wurde. Wer die Texte partout als psychopathologische Zeugnisse lesen will, soll das tun, aber er betreibt damit keine Wissenschaft im Sinne einer Wissenschaft, die sich mit autonomen Kunstartefakten beschäftigt. Er degradiert Kafka auch von einem Künstler zu einem psychopathologischen Fall und nimmt ihn als Künstler gar nicht ernst.

 

Beispiel 1: Kafkas „Josefine, die Sängerin, und das Volk der Mäuse“

Der Text kreist um die Frage, ob der Gesang von Josefine tatsächlich ein Gesang ist oder nicht vielmehr ein bloßes Pfeifen. Komisch an ihm ist, daß es eine Maus ist, die die Frage erörtert, ob der Kunstanspruch, den die Maus Josefine erhebt, berechtigt ist oder nicht. Wenn Kunst zur Entstehungszeit dieses Textes im Sinne Luhmanns nur als autonom begriffen werden kann, ist Josefines Kunst keine Kunst. Denn am Ende dieser Erzählung wird darauf hingewiesen, daß das Volk der Mäuse „keine Geschichte“ treibe, womit ihre Kunst nicht rekursiv sein kann ‒ ganz anders als die Kafkas, dessen Text über Josefine sich rekursiv auf die Geschichte der Gattung der Lehrdichtung Fabel bezieht und eine Lehre bereithält, die in keiner Fabel zuvor jemals artikuliert wurde.

 

Beispiel 2: Kafkas „Der Hungerkünstler“

Auch die Erzählung „Der Hungerkünstler“ ist rekursiv, denn sie handelt von Kunst, allerdings einer besonderen. Sie ist nämlich im zirzensischen Raum angesiedelt, also im Bereich der Volksbelustigung oder Unterhaltung, etwas, was es neben erst magischer, dann educativer und schließlich autonomer Kunst auch immer gab. Kafkas Hungerkünstler beansprucht im Rahmen einer zirzensischen Praxis einen autonomen Kunstanspruch, was ihn sozial zunehmend isoliert. Damit wird seine Kunst deshalb paradox, weil Kunst auch als autonome natürlich nur als etwas für einen Adressaten Gemachtes produziert wird. Hier realisiert sich die Kunstautonomie aber nur durch Isolation von anderen Menschen und durch die Reduktion auf die Reduktion von Körperfunktionen. Am Ende bleibt damit der Künstler wahres künstlerisches Subjekt nur, in dem er sich auslöscht.

 

Schluß

Die beiden Beispieltexte sind späte Texte Kafkas, aber auch im Frühwerk sind autoreflexive (also rekursive) Motive unverkennbar. Hans-Thies Lehmann hat das in einem wegweisenden Aufsatz über Kafkas Frühwerk bereits wunderbar herausgearbeitet, der mir äußerst hilfreich bei meinem ersten und bislang einzigen Beitrag zur Kafka-Forschung war (www.satt.org/literatur/11_02_kafka.html), die vollständig zu überblicken inzwischen wahrscheinlich unmöglich ist. Sollte es aber noch keine Arbeit geben, die Rekursivität im oben bezeichneten Luhmannschen Sinn ins Zentrum der Analyse rückt, dann wäre sie ein Desiderat.