Religion, Aufklärung und Frösche

Der Literaturwissenschaftler Peter J. Brenner hat ein Buch über die Religion in der Migrationsgesellschaft veröffentlicht, bei dem man sich zunächst fragen könnte, warum ausgerechnet ein Literaturwissenschaftler sich diesem, seinem Fach auf den ersten Blick nicht zugehörigen Thema widmet, und warum hier ein anderer Literaturwissenschaftler es nun auch noch zum Anlaß nimmt, es zur Lektüre zu empfehlen. Über die Motive von Brenner will ich nicht spekulieren, aber über meine eigenen kann ich gern Auskunft geben, und sie haben durchaus etwas mit meiner Arbeit als Literaturwissenschaftler zu tun. Wenn man nämlich der Frage nachgeht, warum der Roman das Epos abgelöst hat, warum es also die heute so beliebte Gattung Roman überhaupt gibt und aus welchen Gründen sie entstanden ist, dann stößt man unweigerlich auf eine Erklärung, die Georg Lukács zu einer Zeit formuliert hat, in der er noch kein Marxist war und noch nicht dem sozialistischen Realismus huldigte. „Der Roman“ schreibt Lukács in seiner 1916 erstmals veröffentlichten „Theorie des Romans“, „ist die Epopöe der gottverlassenen Welt“. Ein Grund, wenn nicht gar eine Bedingung der Möglichkeit für das Vergnügen an Romanen als ästhetischen Gegenständen ist für ihn mithin transzendentale Obdachlosigkeit. Es versteht sich daher, daß ein Literaturwissenschaftler sich für Religionsgeschichte interessieren muß, vor allem dann, wenn eine Religion wie der Islam sich anschickt, Geltungsansprüche zu erheben, die den Grund für das Vergnügen an Romanen obsolet werden lassen könnten.

 

„Vielleicht ist Gott ja wirklich tot“, lautet der erste Satz in Brenners Buch, der zögerlicher klingt als Brenner dann tatsächlich ist. Denn über den Befund von Gottes Tod, den Nietzsche nicht nur feststellte, sondern auch als Morgenröte einer neuen Zeit begrüßte, konstatiert Brenner nur wenige Sätze später mit aller Deutlichkeit: „In einer aufgeklärten Gesellschaft hat die Religion keinen Platz mehr; sie wird von der Vernunft verdrängt.“ Natürlich übersieht und leugnet Brenner nicht, daß es auch in unserer aufgeklärten Welt noch Religion gibt. Aber sie ist, wie man mit Niklas Luhmann sagen könnte, den auch Brenner einmal heranzieht, in ein gesellschaftliches Subsystem verbannt, und in ihm allein hat sie noch die Oberhoheit, während sie sie in allen anderen gesellschaftlichen Subsystemen ‒ Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst usw. ‒ nicht mehr hat.

 

Seit dem Zuzug muslimischer Gastarbeiter in den 1960er Jahren sind wir in Deutschland jedoch zunehmend mit einer Religion konfrontiert, die solche Grenzziehungen nicht kennt, sondern in die Lebensführung der Menschen umfassend mit dem begründungsersetzenden Diktum eingreift: „Weil Allah es so will.“ Oder, wie Brenner schärfer und genauer formuliert: „Eine säkulare und permissive Gesellschaft steht dem invasiven und teilweise aggressiven Eindringen einer in ihren Rändern höchst unscharfen, in ihrem Kern aber sehr klar definierten Religion sowohl ratlos wie wehrlos gegenüber.“

 

Darüber, ob das so stimmt, was es, wenn es stimmt, heißt und was daraus zu schlußfolgern ist, muß man in einer aufgeklärten Gesellschaft im Zweifelsfall debattieren. Eine solche Debatte hat es schon vor mehr als zehn Jahren gegeben. Thierry Chervel und Anja Seeliger haben sie in dem Band „Islam in Europa“ dokumentiert, der 2007 in der edition suhrkamp erschienen ist, und in dessen Vorwort es heißt: „Die Demokratie ist keine Espressomaschine. Am Ende einer Debatte lässt sich die Wahrheit nicht davontragen wie ein Café Creme, zu dem sich zuvor strikt divergierende Essenzen glücklich vereint hätten. Debatten suchen ohnehin nicht die Mischung oder den Kompromiss, sondern eine Schärfung der Standpunkte.“

 

Brenners Buch in diesem Sinne als Beitrag zu einer Debatte zu lesen, ist (auch) möglich, wäre als Charakterisierung aber irreführend. Denn er artikuliert nicht nur eine islamskeptische Meinung, sondern legt weit ausgreifend und umfassend Gründe dar, die ihn seine Meinung haben gewinnen lassen. Dazu gehören soziologische, anthropologische, historische, rechtliche (darunter auch insonderheit kirchenrechtliche), theologische sowie politische Überlegungen, die er in einer sehr gut lesbaren Mischung aus Kontextualisierung, Information, Einordnung und Bewertung in acht Kapiteln entfaltet. Darüber hinaus, und das ist in gewöhnlichen Debattenbeiträgen meist nicht der Fall, antizipiert und diskutiert er mögliche Einwände, Grenzen der Reichweite von Argumenten oder denkbare Entwicklungsperspektiven, auch wenn sie ihm nicht wahrscheinlich erscheinen. Dazu gehört auch der rückblickende Hinweis darauf, daß die römisch-katholische Kirche erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, 1962 also, Grundregeln einer demokratischen und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft akzeptiert hat, was zeigt, mit welchen Zeiträumen man rechnen muß, um in einer aufgeklärten Gesellschaft eine Religion in ihre Schranken zu weisen. Entsprechendes steht für den Islam nicht nur noch aus, es ist auch kaum auszumachen, wie es zu gewinnen sein könnte. Gleichwohl unterstreicht Brenner, es sei selbstverständlich „erforderlich, den Islam in Deutschland dann zu verteidigen, wenn die Regeln der Toleranz gefährdet werden“. Mit herrlicher Ironie und doch ganz unmißverständlich fügt er hinzu: „Der alte Satz der deutschen Leitkultur, dass hier jeder nach seiner façon selig werden könne, gilt auch für Muslime.“

 

Freilich sind diese Sätze unmißverständlich nur dann, wenn man den Toleranzbegriff nicht aufweicht, sondern Toleranz strictu sensu als Duldung dessen, was man ablehnt, begreift. Wer anderes darunter verstehen möchte und sich dazu etwa auf die Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“ verweist, kann (und sollte) sich von Brenner im letzten Abschnitt seines Buches eines besseren belehren lassen. Denn was Lessings Nathan mit der Ringparabel im Gespräch mit einem Tyrannen, der gerade 19 Tempelritter hat hinrichten lassen, entwickelt, ist nichts anderes als die Ersetzung des Absolutheitsanspruchs der Religion ‒ jeder Religion ‒ durch hermeneutische Auslegungsbedürftigkeit, womit ihre Wahrheit folgerichtig dem Urteil einer räsonierenden Vernunft unterworfen wird.

 

Toleranz als Duldung dessen, was man ablehnt, verlangt nach einem eigenen Standpunkt, der im Streitfall auch verteidigt wird. Der Standpunkt, den Brenner einnimmt und zu verteidigen auffordert, ist der der Aufklärung. Und um deutlich zu machen, was passieren kann, wenn man die Maßgaben Aufklärung preisgibt, empfiehlt Brenner am Ende die Lektüre des Romans „Geschichte der Abderiten“ von Christoph Martin Wieland. Warum? Weil es sich um eine Satire über das Auftreten und die Verbreitung einer importierten Religion handelt: Die Göttin Latona verordnet den Abderiten die Verehrung von Fröschen. Es folgen Auseinandersetzungen, aber, wie Brenner zusammenfaßt, „das Reden hilft nichts. Immer weiter dringen die Frösche in den öffentlichen Raum vor, Straßen und Plätze werden in Tümpel und Sümpfe umgewandelt, auf dass die Frösche sich behaglich fühlen. Und als dann zur Frosch- noch eine unerklärliche Mäuseplage tritt, wissen sich die Abderiten keinen Tat mehr, als ihre Stadt aufzugeben und sie den Fröschen und Mäusen zu überlassen.“ Zugegeben: Das ist in den aktuellen Diskussionskontext gestellt, eine ziemlich böse Satire. Aber, wie schon Tucholsky sagte: „Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten. […] Was darf die Satire? Alles.“

 

In der Islamdebatte, die Chervel und Seeliger 2007 dokumentiert haben, machte Chervel eine Eigentümlichkeit aus: „Die ‚Linke‘ verteidigt die ‚Kultur‘, die ‚Rechte‘ dagegen die Werte der Aufklärung. Verkehrte Welt, in der Feministinnen wie Ayaan Hirsi Ali oder Necla Kelek vorgeworfen wird, sie seien die nützlichen Idiotinnen der Reaktion.“ Das steht Brenner nun wahrscheinlich auch bevor. Und sollte es so kommen, bin zumindest ich mit Wieland, Lessing und ihm lieber auf der Seite der Aufklärung.

 

Peter J. Brenner: Fremde Götter. Religion in der Migrationsgesellschaft. Waltrop, Berlin: Manuscriptum Verlagsbuchhandlung 2017. Versandkostenfrei bestellbar ist das Buch hier: https://www.manuscriptum.de/autoren/b/brenner-peter-j/fremde-goetter-317.html