„Ich bin genauso deutsch wie Kafka“

Das Portrait: Terézia Mora

 

(Der Text ist 2009 im Literaturblatt Baden-Württemberg erschienen; hier nochmals aus gegebenem Anlaß)


Wer im Literaturbetrieb der Bundesrepublik seine Weltoffenheit und Toleranz unter Beweis stellen will, kann das ganz leicht dadurch tun, dass er sich für „Autoren mit Migrationshintergrund“ besonders aufgeschlossen zeigt. Das Deutsch von dergestalt rubrizierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern mutet zwar mitunter genauso exotisch an wie die phantasievollen Künstlernamen mancher Schlagersänger. Aber was macht das schon, wenn es vor allem um Völkerverständigung, Toleranz und die Beseitigung von Vorurteilen geht.

 

Ein nörgelndes Insistieren auf sprachlichem Ausdrucksvermögen ist natürlich völlig deplaziert, solange von Literatur als einer Kunstform gar nicht die Rede ist. Wenn wir indes über Literatur als Kunst sprechen und nicht von sozialen oder politischen Aufgaben, die Literatur angeblich zu erledigen habe, sollte sich die Lage nicht anders darstellen als beim Fußball. Wer dort nur eine fehlende Ballbeherrschung mit Konditionsschwäche und einem auffälligen Mangel an impulsgebender Spielphantasie zu kombinieren vermag, wird es nie und nimmer zu einem hochdotierten Libero bringen. Als „Autor mit Migrationshintergrund“ dagegen hat man in Deutschland gar keine schlechten Chancen, auch ohne literarisches Talent eine Förderung zu ergattern.

 

Terézia Mora ist eine „Autorin mit Migrationshintergund“. Sie wurde 1971 in Ungarn geboren, lebt seit 1990 in Berlin und veröffentlichte 1990 ihr erstes Buch. Da die Erzählungen, die darin versammelt sind, in Ungarn spielen, und ihr zweites Buch, der Roman „Alle Tage“, von einem Einwanderer handelt, den es in die deutsche Großstadt „B.“ verschlagen hat, ist ein migrationsliterarisches Rezeptionsmuster geradezu vorprogrammiert: Eine in Deutschland lebende Ungarin schreibt über das, wonach sie sich sehnt (die verlorene Heimat!) und was einem in einer fremden, noch dazu deutschen Metropole widerfährt (Beklagenswertes!).

 

Beginnt man die Lektüre mit einer mitgrationsliterarischen Erwartungshaltung, kann man leicht übersehen, wie sie in Moras Debüt schon auf der stofflichen Ebene unterlaufen wird. Als Ort der Sehnsucht mutet die geschilderte Heimat nämlich gar nicht an. Und auf die große Raffinesse der Erzählkonstruktion in dem Roman „Alle Tage“ achtet man womöglich auch nicht, wenn man auf „Migrationsliteratur“ eingestimmt ist und sich daher vorzugsweise auf die Handlung und die Figurencharakteristik konzentriert. Die Erzählkonstruktion aber ist es erst, durch die Mora ihren Stoff in Literatur verwandelt, die ohne Frage nicht nur förderungs-, sondern preiswürdig ist.

 

Wie funktioniert die Erzählkonstruktion in diesem Roman genau? Zunächst meint man, es mit einem typischen auktorialen Erzähler zu tun zu haben. Er weiß nicht nur, was die Figuren sagen, er weiß auch, was sie denken, fühlen – und was sie nicht wissen. Moras Erzähler schmiegt sich den Figuren jedoch mitunter derart an, dass fast unmerklich der Eindruck entsteht, man habe es mit einem personalen oder gar einem Ich-Erzähler zu tun. Diese intime Nähe stellt sich aber nicht etwa nur beim Protagonisten ein. Der Erzähler wechselt vielmehr ständig die Perspektive, manchmal sogar inmitten eines Satzes. Genauso rasant kann eine nüchterne Beschreibungen zum drastischen Kommentar werden, der sich schließlich als zitierte wörtliche Figurenrede entpuppt. Mehr noch: Der Erzähler stellt dem Leser nicht selten eine Situation als Wirklichkeit vor, um ihn kurz darauf damit zu konfrontieren, dass es sich nur um eine Möglichkeit gehandelt, „in Wirklichkeit“ aber ganz anders abgespielt hat.

 

So erklärt er einmal: „Wenn wir schon dabei sind, sagte Erik, habe ich hiermit einen neuen Hinweis für dich. Das heißt, nein, ein Erik macht das anders. Hör mal, sagte er mit gedämpfter Stimme und schloss auch die Tür hinter sich, obwohl außer ihnen niemand da war. Ich habe etwas erfahren.“ Es bleibt immer unsicher, ob das, was gerade behauptet wird, sogar als wörtliche Rede behauptet wird, nicht nur der Phantasie des Erzählers entspringt. Dessen Verlässlichkeit steht permanent in Frage, weil man ständig darauf gefasst sein muss, dass er die grade noch mitgeteilte Faktizität plötzlich widerruft und zu einem bloßen Gedankenspiel erklärt.

 

Damit widerfährt dem Leser, was der Roman thematisiert. Er handelt vom vergeblichen Versuch der Hauptfigur Abel Nema, in einer Welt Orientierung und Halt zu finden, die nicht seine Heimat ist. Das ist freilich nicht nur ein Problem von Migranten in deutschen Städten, sondern ein Grundmotiv des Großstadtromans. Die Situation Abel Nemas ist keine andere als die von Franz Biberkopf in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, also keineswegs migrationsspezifisch. Und dass es Mora in erster Linie wohl auch nicht um die Darstellung der Probleme von Einwanderern zu tun war, sondern um die einer existentiellen Grunderfahrung in der Moderne, wird deutlich, wenn man um die literarische Reverenz weiß, die sich im Titel des Romans verbirgt. Er zitiert das Gedicht „Alle Tage“ Ingeborg Bachmanns, das mit den Versen beginnt: „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt. / Das Unerhörte / ist alltäglich geworden. / Der Held / bleibt den Kämpfenden fern. Der Schwache / ist in die Feuerzonen gerückt.“

 

Dieses Gedicht könnte man auch Moras neuem Roman als Motto voranstellen, der in diesen Tagen erscheint. Im Mittelpunkt steht ebenfalls eine Suche nach Orientierung und Halt, nur ist – mit Michel Houellebeque gesprochen – die „Kampfzone“ diesmal deutlich größer als ein Stadtgebiet. Darius Kopp vertritt als einziger kontinentaleuropäische Vertreter eine kalifornische Firma, die besonders sichere drahtlose Computernetzwerke produziert. Mit seinen Kollegen kommuniziert er fast nur telephonisch oder per E-Mail. Manchen von ihnen ist er noch nie persönlich begegnet.

 

Der Leistungsdruck ist enorm, was auch Flora zu spüren bekommt, die mit Darius Kopp verheiratet ist – glücklich verheiratet, hat man den Eindruck. Aber dieser Eindruck stellt sich nur ein, weil der – wie in „Alle Tage“ auktoriale – Erzähler offenbar versucht, dem Selbstbild und der Wahrnehmungsperspektive des Protagonisten zu folgen. Das lädt zur Identifikation ein, denn trotz erheblichem Übergewicht, einem ausgeprägten Hang zur Unordnung und notorischer Unpünktlichkeit wirkt Darius Kopp ausgesprochen liebenswert.

 

Allerdings meldet sich zwischendurch in eingeklammerten Kommentaren eine andere Stimme, die gleichsam aus dem Off manches Detail ergänzt, auch schon mal klarmacht, dass nicht alles stimmt, was dem Leser aufgetischt wird: Wenn der Erzähler etwa von „einer ewigen Weile“ spricht, wird er von dieser zweiten Stimme sogleich korrigiert: „(in Wahrheit: kurzen)“. Diese beiläufigen Interventionen lenken die Aufmerksamkeit schon sehr bald auf die merkwürdige Allianz, die zwischen dem Erzähler und seinem Helden zu bestehen scheint, eine Sympathie bis zur Parteilichkeit, zu der auch der Leser durch den Erzähler geradezu genötigt wird. Doch allmählich und immer deutlicher zeichnet sich ab, dass diese Geschichte zweifellos weniger harmonisch ausfiele, wenn zum Beispiel Flora sie erzählen würde.

 

Mora durchkreuzt auf diese Weise beharrlich die Bereitschaft jedes gutwilligen Lesers, dem Erzähler zu trauen und dem Erzählten Glauben zu schenken. Ergänzt wird diese Verunsicherungsstrategie erneut durch das schon in „Alle Tage“ erprobte Verfahren, eine mögliche Verhaltensweise erst als die tatsächliche zu suggerieren und sie anschließend zu dementieren. „Hast du schon mal“, fragt der Erzähler etwa einmal den Leser ganz direkt und ruft in ihm sogleich die Evokation eines dramatischen Geschehens hervor, „einem Zug hinterher gebrüllt, ohne daran zu denken, dass du nicht allein bist, ganz im Gegenteil, Hunderte von Leuten sehen und hören dich, wie du ein Fahrzeug anbrüllst: Geh doch! Geh doch! Meinetwegen brauchst du nie wiederzukommen!“ Mit dem nächsten Satz gibt er sich weiterhin komplizenhaft, gesteht aber nichts weniger als ein Täuschungsmanöver: „Nein, und auch Kopp tat das nicht, im Gegenteil, in ihm war es ganz still […].“

 

Durch solche Finten entsteht das facettenreiche Portrait eines Charakters, der stets in einem sehr anschaulich dargestellten Handlungsraum agiert. Doch zugleich vollzieht der Text eine autoreflexive Bewegung, die alles, was derart plastisch präsentiert wird und zur identifikatorischen Hingabe einlädt, als selektiv, einseitig und fiktional dekuvriert. Das geschieht mit so leichter Hand und ist mit soviel Schalk garniert, dass die Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite großes Vergnügen bereitet. Ja, ausgeklügelte Erzähltechnik und Unterhaltsamkeit sind in diesem Roman so innig miteinander verbunden, dass er gute Chancen haben dürfte, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet zu werden.

 

Die Frage, welche Bedeutung der Migrationshintergrund Terézia Moras für ihr literarisches Werk hat, sollte sich nach diesem Roman ein für alle Mal erledigt haben. Sie selbst beantwortete sie übrigens einmal kurz und bündig: „Ich bin genauso deutsch wie Kafka.“ Der literarische Anspruch, den sie damit ebenfalls formuliert, wäre aus manch anderem Mund eine Anmaßung. Aus ihrem ist er es nicht.

 

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Zum Weiterlesen:

 

Terézia Mora: Seltsame Materie. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999.

 

Terézia Mora: Alle Tage. Roman. München: Luchterhand Literaturverlag 2004.

 

Terézia Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent. Roman. München: Luchterhand Literaturverlag 2009.