Liebesnöte und Liebesglück

Liebesgeschichten, die glücklich enden, sind in der Literatur sehr selten. Daniel Kampa hat zwar in einem Sammelband für Diogenes („Happy Ends. Liebesgeschichten, die gut ausgehen“; detebe 24161) gleich elf solche Liebgeschichten versammelt (unter ihnen immerhin auch eine von T. C. Boyle), aber in der Hochliteratur dominieren in diesem Sujet wie in der Oper die traurigen oder gar tragischen Enden. Glück ist literarisch wie musikalisch offenbar nicht ganz so ergiebig. Und natürlich lauert bei guten Ausgängen immer die Kitschgefahr.

 

Michael Köhlmeiers neuer Roman enthält indes eine Liebesgeschichte, die glücklich auszugehen verspricht und ganz und gar nicht kitschig ist. Verstrickt ist in sie eine Figur, die kontinuierliche Köhlmeier-Leser aus einigen seiner Bücher (unter ihnen die Romane „Abendland“ [2007], „Madalyn“ [2010] und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ [2014]) schon kennen (und dann wahrscheinlich auch schätzen) gelernt haben: der Schriftsteller Sebastian Lukasser, der aussieht "wie Walter Benjamin, nur schlanker".

 

Lukasser ist in dem neuen Roman eine Nebenfigur, seine Liebesgeschichte jedoch keine randständige Episode. Warum das so ist, kann man nicht erklären, ohne künftigen Lesern dieses Buchs etwas zu verraten, was sie besser als tatsächliche Leser selbst erfahren sollten. Da ich dem Buch sehr viele tatsächliche Leser wünsche, verrate ich es also nicht.

 

Verraten will ich aber: Alle anderen Liebesgeschichten in diesem Romans haben kein glückliches Ende. Allein diese Rahmung beugt jeder Kitschgefahr vor. Besonders hart trifft es einen der beiden Titelhelden: Robert Lenobel. Auch ihn kennen kontinuierliche Köhlmeier-Leser aus früheren Büchern. Sie erinnern dann vielleicht, daß er mal Trotzkist war, neben seiner Arbeit als Psychiater und Psychoanalytiker auch Vorlesungen über Philosophie gehalten, das dann aber wieder gelassen hat, weil er sich von den Studenten „eingekreist fühlte wie von einem Rudel fehlgeleiteter Sozialarbeiter“. Sebastian Lukasser berichtet von ihm:

 

„Die Philosophie, predigt er, sei der Religionsersatz der Kleinmütigen, das Opium für die Gottlosen; ‚mit einem moralischen Auftrag ist sie dumm, ohne einen solchen ist sie sinnlos‘; gute Philosophen seien Dichter, mit Wahrheit habe ihr Aufwand nicht das geringste zu tun; der ewige Schmarren aus Wer-bin-ich?, Woher-komme-ich? Und Wohin-gehe-ich? Werde uns immer nur von den Zweit- Dritt und Viertrangigen aufgetischt, daran seien diese nachgerade zu erkennen. Ich gebe neidlos zu, Herr Dr. Lenobel ist ein Meister der psychologischen Rhetorik, halbwegs angesiedelt zwischen Augustinus und Colombo, Freud und Hercule Poirot.“ („Abendland“, S. 357)

 

Auch Robert Lenobel wird von Fragen, die er mal als „ewigen Schmarren“ der Philosophie abgetan hat, im neuen Roman Köhlmeiers eingeholt. Er muß nämlich zu seinem großen Erschrecken feststellen, daß er eine Ehe führt und Vater von Kindern geworden ist, ohne seine Frau je geliebt zu haben. „Aber ich habe“, erklärt er“, doch geglaubt, ich liebe sie. Wie konnte ich, fragt ausgerechnet er, der Psychiater und Psychoanalytiker, sich nun, „das einreden?“ Robert Lenobel macht sich nun auf eine Suche, die er früher noch so verachtet hat: nach seinen Wurzeln. In diesem Fall sind es jüdische Wurzeln. Und nicht von ungefähr plant er, ein Buch über den französischen Anthropologen, Philosophen und Literaturwissenschaftler René Girard und dessen Untersuchungen zum Phänomen des Sündenbocks zu schreiben. Denn, wie er einmal gegenüber einem "Gojim" erklärt, der ausgerechnet David heißt: "Ich als Jude bin anders als Sie, der Sie ein Nichtjude sind. Und umgekehrt." ("Abendland", S. 360) Wenig später fügt er allerdings hinzu:

 

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich so denke [...]. Manchmal denke ich wirklich so, manchmal spreche ich den Gedanken nur aus, um mich zu vergewissern, daß ich nicht so denke. Kennen Sie so etwas? [...] Man hat so viele Gedanken im Kopf, und sie sind ja nicht mit Farben markiert – rot die fremden, blau die eigenen. Wie soll man sie auseinanderhalten. Es ist so schwer. Man soll sie aussprechen." ("Abendland", S. 363)

 

Es ist das Schöne an Literatur, daß sie uns Figuren vorführen kann, die Dinge aussprechen, die man außerhalb der Schutzzone der Fiktionalität nicht sagen kann oder jedenfalls besser nicht sagen sollte. Robert Lenobel tut das mitunter, aber er reflektiert auch darüber. In diesem Fall denkt er sogar darüber nach, wie identitätsprägend eine Sozialisation durch Bücher ist und wo sie ihre Grenzen findet. Und am Ende seiner Überlegungen bleibt er nicht bei einem Dualismus stecken, sondern formuliert nichts weniger als eine ziemlich hegelianisch anmutende dialektische Lösung: "Ich bin der Jude, wie er im Buch steht, nämlich all das, was er nicht ist und nicht sein will."

 

Der Weg zu dieser Einsicht ist so spannungs- und abwechslungsreich, daß man sich ihn sich nicht ersparen sollte. Und ob sie Lenobel bei seinen Liebesnöten weiterhilft, erfahren wir hoffentlich in einem nächsten Romane von Michael Köhlmeier. Zu diesem bleibt abschließend nur zu sagen, daß es erstaunlich, ja ganz und gar unverständlich ist, warum er nicht auf der Longlist zum diesjährigen deutschen Buchpreis steht.

 

Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel. Roman. München: Hanser 2018.