Carl Zuckmayer und die „Völkermühle Europas“

I. Vorbemerkung

 

Es ist überhaupt nichts Neues, wenn in Deutschland die Gefahr einer „Überfremdung“ und die Notwendigkeit einer „Rettung des Abendlandes“ beschworen wird. Es war auch nicht allein dem sogenannten Dritten Reich vorbehalten, jeder Form des Eindringens von „Artfremdem“ in das deutsche Volk einen entschlossenen Kampf anzusagen. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderte Ernst Moritz Arndt, er wünsche „den germanischen Stamm“ von „fremdartigen Bestandteilen rein“ gehalten (Arndt, Blick aus der Zeit, S. 188), denn – so seine Begründung – „das Fremde und Entartete“, besonders „die bedrängten Juden“, führten mit ihrem „Schmutz und ihrer Pest“ in „Teutschland“ zu einer „verderbliche[n] Überschwemmung“ (ebd., S. 199).

Ähnliches wurde bis weit in das 20. Jahrhundert immer wieder von Schriftstellern, Historikern, Publizisten und Politikern proklamiert. Und manche wollten ein damit verwandtes Denken noch bemerkt haben, als der CDU-Politiker Jürgen Rütgers im Jahr 2000 für den Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen den Slogan „Kinder statt Inder“ prägte oder Oskar Lafontaine 2005 als damals führender Kopf der „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG)“, davor warnte, dass Arbeiter aus dem Osten den Deutschen „zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen“.

 

Schon diese ‒ zugegebenermaßen rasante ‒ tour d’horizon von Ernst Moritz Arndt zu Jürgen Rütgers und Oskar Lafontaine lässt nicht nur die immer wiederkehrende Aktualität von Themen wie Zuwanderung, Integration und Zuwanderungsbegrenzung erkennen, sondern auch Unterscheidungsnotwendigkeiten. So argumentierte Arndt zweifellos rassistisch; für Rütgers und Lafontaine gilt das hingegen zweifellos nicht. Das fürs erste festzuhalten, ist keineswegs müßig, denn die unterschiedlichen Prämissen politischen Handelns sind auch dann nicht gleichgültig, wenn die handlungsleitenden Schlussfolgerungen auf den ersten Blick ähnlich anmuten mögen.

 

Sobald allerdings völkische Motive ins Spiel kommen, wird die Sache mehr als unappetitlich. Und die ganze Absurdität einer völkischen Denkungsart lässt sich kaum plastischer demonstrieren als am Beispiel Carl Zuckmayers. Er selbst bezeichnete sich 1939 in einem Brief an Friedrich Torberg als „deutschnationales Rübenschwein“ (Nickel/Weiß, S. 267), was zwar ziemlich salopp formuliert war, die Sachlage aber ganz gut trifft. Doch gerade Zuckmayer, dem es als Schriftsteller sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg wie keinem anderen gelang, die vorherrschende Gemütslage in Deutschland zu verstehen und in seinen Werken zum Ausdruck zu bringen, gerade er wurde in den 1920er und 1930er Jahren wegen der jüdischen Herkunft seiner Mutter als „Halbjude“ zunächst beschimpft, dann verfolgt und schließlich ausgebürgert. Dabei war Zuckmayer katholisch getauft; jüdische Traditionen spielten in seinem Leben und seinem Selbstverständnis nie die geringste Rolle. Er habe sich, hielt er in seiner Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir“ mit allem Nachdruck fest, immer als das empfunden, „was ich nach Art, Sprache, Erziehung war, bin und bleibe: ein Deutscher, aus der ‚südwestlichen Ecke‘“ (S. 186).

 

Zuckmayers Begriff von Deutschtum ist ausschließlich kulturell bestimmt und noch dazu regional ausdifferenziert. Die Mentalitätsunterschiede zwischen Norddeutschen im von ihm einmal als „Sprotten-Athen“ verspotteten Kiel und Süddeutschen im von ihm als „Weißwurst-Sparta“ verulkten München (Zuckmayer, Die langen Wege, S. 14), wusste er durchaus in Rechnung zu stellen. Wenn „deutsch“ deshalb als Sammelbezeichnung für reichlich heterogene kulturelle Eigenheiten ohnehin eine große Unschärfe hat, so erschien Zuckmayer dieses Adjektiv erst recht völlig untauglich, um mit ihm biologistischen Vorstellungen von „rassischer Reinheit“ zu huldigen. Eine großartige Begründung dafür hat er 1943 einer seiner Dramenfiguren in den Mund gelegt, dem Generalluftzeugmeister Harras in „Des Teufels General“. Dort entspinnt sich zwischen Harras und dem Fliegeroffizier Hartmann gegen Ende des ersten Akts ein Gespräch über die Gründe, aus denen der seine Fast-Verlobung mit Waltraud von Mohrungen, genannt Pützchen, gelöst hat. Hartmann erklärt es mit einer „Unklarheit in meinem Stammbaum“: Eine der Urgroßmütter „scheint vom Ausland gekommen zu sein“, was „öfters in rheinischen Familien“ vorkomme. „Sie ist unbestimmbar. Die Papiere sind einfach nicht aufzufinden.“

 

Der meist zu burschikosen Anzüglichkeiten aufgelegte Harras antwortet daraufhin: „Na, und was wissen Sie denn über die Seitensprünge der Frau Ururgroßmutter? Die hat doch sicher keinen Ariernachweis verlangt. Oder ‒ sind Sie womöglich gar ein Abkömmling von jenem Kreuzritter Hartmann, der in Jerusalem in eine Weinfirma eingeheiratet hat?“ Hartmann reagiert auf diese derbe Tonlage mit respektvoller Indolenz: „Soweit greift die Rassenforschung nicht zurück, Herr General.“ Doch damit liefert er nur die Vorlage für eine Replik, die es in sich hat. „Muß sie aber! Muß sie!“, ruft Harras zunächst, um dann erst richtig loszulegen:

 

„Wenn schon ‒ denn schon! Denken Sie doch ‒ was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein ‒ noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! […] Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor ‒ seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. ‒ Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant ‒ das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt ‒ und ‒ und der Goethe der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und ‒ ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt ‒ wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein ‒ das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse.“ (S. 67)

 

Bis vor kurzem konnte man mit Fug und Recht annehmen, eine solche Auseinandersetzung spiegle zum Glück nur noch Geschichte, rassistisches Denken sei allenfalls eine gesellschaftliche Randerscheinung. 2011 aber erschütterte das Bekanntwerden einer rassistisch motivierten Mordserie des „Nationalsozialisten Untergrunds (NSU)“ die deutsche Bevölkerung. Und als sei das nicht Mahnung genug, solchen Wirrungen im Denken und Handeln auf keinen Fall Vorschub zu leisten, schwadronierte der Landes- und Landtagsfraktionsvorsitzende der thüringischen „Alternative für Deutschland (AfD)“ im November 2015 allen Ernstes darüber, „die Evolution“ habe „Afrika und Europa, vereinfacht gesagt, zwei unterschiedliche Reproduktionsstrategien beschert“, die „sehr gut nachvollziehbar für jeden Biologen“ seien. Während Europa einen Platzhaltertyp hervorgebracht habe, lebe in Afrika ein Ausbreitungstyp.

Für Biologen sind derlei Feststellungen indes absurd, denn die Biologie stellt unterschiedliche Reproduktionsstrategien nur bei verschiedenen Arten fest, wobei die Zugehörigkeit zu einer Art dadurch bestimmt ist, dass Nachkommen gezeugt werden können. Die Beteuerung Höckes, selbst Vater von immerhin vier Kindern, er lehne Rassismus und die Rassentheorie des Nationalsozialismus ab, ist ob des biologistischen Zungenschlag in seiner Rede hohl und leer, zumal einer seiner Freiburger Parteifreunde den amtierenden US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama als „Quotenneger“ titulierte und auch zu erklären müssen meinte: „Schwarze haben schon ein anderes Triebleben als Weiße oder Asiaten.“ Durch solche Stellungnahmen, die geschmacklos zu nennen eine Untertreibung wäre, bekommt Zuckmayers etwas in die Jahre gekommenes Stück „Des Teufels General“ unversehens wieder eine Aktualität, die man ihm in dieser Form eigentlich nicht wünschen würde.

 

Doch nicht nur dieses Stück, sondern auch Zuckmayers Biographie verdient angesichts der gegenwärtigen Konjunktur von ausländerfeindlichen Ressentiments und ins Rassistische hinüberspielenden Evokationen wieder neue Aufmerksamkeit, war er doch nahezu zeitlebens ein Migrant, dem es immer gelungen ist, sich in neue Lebensumstände mehr als nur wohlgelitten zu fügen. Sein Lebensweg zeigt gleichsam exemplarisch, wie Integration immer wieder aufs Neue gelingen kann ‒ ohne Herkunft und Prägung jemals zu verleugnen.

 

II. Carl Zuckmayer als Migrant

 

Zuckmayer wurde 1896 in Nackenheim geboren, wo sein Vater eine Fabrik für Weinflaschenkapseln besaß. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie nach Mainz, und es war Glück, dass diese Migrationsbewegung von etwas mehr als zehn Kilometern einer vollständigen sozialen Einbürgerung nicht im Wege stand. Die Entfernung von Nackenheim nach Mainz entspricht annähernd der Entfernung von Mainz nach Wiesbaden, ein geborener Wiesbadener könnte jedoch, wie die Mainzer Karnevalsreden Jahr um Jahr deutlich machen, niemals ein „Mainzer Jung“ werden; eher noch würden die Kölner Karnevalisten aufhören, jahrein, jahraus über Düsseldorf zu spotten. Man kann in Zuckmayers Fall also von einer schon sehr früh geglückten Migration sprechen ‒ ohne sein Zutun und durch glückliche Umstände.

14 Jahre sollten seiner neuen Heimatstadt reichen, um aus dem gebürtigen Nackenheimer das zu formen, was man einen waschechten Mainzer nennen kann, der diese Herkunft durch seinen Dialekt zeitlebens auch jedem sofort verriet. Noch nicht achtzehnjährig verließ er Mainz dann ‒ bis auf seltene Besuche ‒ für immer. Nach dem Notabitur wurde Zuckmayer 1914 Soldat an der Westfront, danach studierte er erst in der hessischen Metropole Frankfurt, dann im kurpfälzischen Heidelberg, bevor es ihn in die preußische Reichshauptstadt Berlin zog. Dort feierte er 1921 am bedeutendsten Theater der jungen Weimarer Republik die Uraufführung seines Stücks „Kreuzweg“, auch wenn sie bei Publikum und Presse krachend durchfiel.

1922 ging er als Dramaturg ans Kieler Stadttheater. Als man ihn dort 1923 wegen allerlei Allotria vor die Tür setzte, engagierte ihn Hermine Körner als Dramaturg für die Münchener Kammerspiele. Anfang 1924 wechselte er auf Empfehlung des Regisseurs Erich Engel zusammen mit Bertolt Brecht erneut nach Berlin, wo er am Deutschen Theater Geschäftigkeit allenfalls simulierte. In seiner Autobiographie beschreibt er seine Tätigkeit jedenfalls so: 

„Dann und wann las ich auch mal ein Stück – ich erinnere mich, daß in dieser Zeit das Manuskript einer Komödie von Robert Musil eingesandt wurde, ›Vincenz oder Die Freundin bedeutender Männer‹. Da ich Prosa von Musil mit Bewunderung gelesen hatte …, begann ich die Lektüre des Stücks voller Respekt, fand es aber geschraubt und geschwätzig. Ich hinterlegte das Manuskript … für Brecht und bat ihn um seine Meinung. Am nächsten Tag fand ich es wieder, er hatte diagonal über den Umschlag mit Bleistift ‚Scheiße‘ geschrieben. Das war eine unserer intensivsten dramaturgischen Bemühungen, sie hatte uns für einige Zeit ermüdet.“ (S. 458)

Nach einem Jahr lief die Stelle am Deutschen Theater aus, und Zuckmayer schlug sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsarbeiten durch. 1925 hatte er den Einfall zu der Komödie „Der fröhliche Weinberg“, die ihn Ende des Jahres über Nacht berühmt machte, nachdem sie am Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführt worden war. Von den reichlich fließenden Tantiemen kaufte er sich in Berlin am Tiergarten eine riesige Wohnung und in Henndorf bei Salzburg ein idyllisch am Wallersee gelegenes Haus: die Wiesmühl.

 

In Henndorf spielte sich das Leben der Familie fortan hauptsächlich ab; die Berliner Wohnung diente lediglich als Zweitwohnsitz. Da er ohnehin in Österreich lebte, konnte Zuckmayer 1933 noch nicht zu den Heimatvertriebenen gezählt werden. Noch 1935 reiste er für vierzehn Tage nach Berlin und sprach anschließend in einem Brief an seinen Freund Albrecht Joseph von "Reichslustwochen" (S. 118), die er in vollen Zügen genossen habe. Ein beschwerliches Emigrantendasein sieht anders aus.

 

Erst im Dezember 1935 wurde mit seinem Roman „Salwàre oder Die Magdalena von Bozen“ erstmals ein Buch von Zuckmayer in Deutschland verboten. Dass seine Stücke schon unmittelbar nach Hitlers „Machtergreifung“ aus den Theaterspielplänen verschwunden waren, ist nur mit einem wissenschaftlich schwer nachweisbaren Gespür der Intendanten für den Zeitgeist zu erklären, denn eine Zensur fand (noch) nicht statt. Gespielt wurden seine Stücke jedenfalls nicht mehr ‒ mit ganz wenigen Ausnahmen in der Provinz. Auch die Bemühungen des Regisseurs Heinz Hilpert, 1933 Zuckmayers neues Stück "Der Schelm von Bergen" an der Berliner Volksbühne uraufzuführen, scheiterten nicht an einem förmlichen Verbot. Die Uraufführung erfolgte aber 1934 nicht in Berlin, sondern am Wiener Burgtheater.

Die indifferente Lage dauerte noch bis zum 18. August 1936. Erst an diesem Tag gelangte Zuckmayers Gesamtwerk auf die "Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums". Weitere drei Jahre gingen ins Land bis am 8. Mai 1939 der „Deutsche Reichsanzeiger und Preußische Staatsanzeiger“ publik machte, Zuckmayer, seiner Frau Alice und seiner Tochter Winnetou sei die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden.

 

Aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten war Zuckmayer schon nach dem sogenannten Anschluss Österreichs im März 1938 Hals über Kopf in die Schweiz geflohen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er nun von Chardonne sur Vevey am Genfer See aus ‒ wie schon in den Jahren zuvor ‒ mit Arbeiten für die Filmindustrie, die ihn häufiger nach London, aber auch nach Paris und Amsterdam führten. Alsbald stand fest, dass die Familie Europa verlassen wird. Am 25. Mai 1939 bestieg Zuckmayer zusammen mit seiner Frau Alice, seiner Tochter Winnetou und dem zahnlosen Hund Mucki einen niederländischen Ozeandampfer, der noch am gleichen Tag nach New York aufbrach.

 

Da er sich als Drehbuchautor durch die Mitwirkung an Filmen wie "Der blaue Engel" (1930) und "Rembrandt" (1936) international einen Namen gemacht hatte, fand er in Hollywood schnell eine Anstellung. Fast genauso schnell stellte er jedoch fest, dass er so, wie man es dort von ihm erwartete, nicht arbeiten wollte. Er suchte daher nach einer Alternative und fand sie in Vermont. Dort besaß seine Freundin Dorothy Thompson, die er 1925 als Deutschlandkorrespondentin kennengelernt hatte, ein Landhaus. Und als ihr Gast entdeckte und pachtete er 1941 eine Farm, die er vom Frühsommer 1942 gemeinsam mit seiner Frau bis zum Winter 1944/45 mit 93 Tieren betrieb: 57 Hühnern, 20 Enten, fünf Gänsen, vier Ziegen, zwei Schweinen, zwei Hunden und drei Katzen. Danach bezog die Familie in der Hoffnung auf die Möglichkeit zu einer baldigen Rückkehr nach Deutschland ein kleines Farmhaus in Woodstock.

 

Im Januar 1946 wurde Zuckmayer die schon 1943 beantragte amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen, so dass er sich beim amerikanischen Kriegsministerium erfolgreich um die Stelle eines zivilen Kulturbeauftragten in Deutschland bewerben konnte. Ende 1946 brach er für das Kriegsministerium dann zu einer fünfmonatigen Inspektionsreise durch Deutschland und Österreich auf, über die er anschließend einen Bericht verfasste, der 2004 aus dem Nachlaß veröffentlich wurde.

 

Schon bald folgte die Rückkehr nach Europa. Wieder diente Chardonne am Genfer See gleichsam als Stützpunkt. Das Haus in Woodstock wurde aber nicht aufgegebenen, und schon allein, um die Auflagen der amerikanischen Passgesetze zu erfüllen, zog sich Zuckmayer in jedem Frühjahr für mehrere Wochen dorthin zurück. 1957 wurde ihm dieses Pendeln zwischen zwei Kontinenten zu beschwerlich. Er erwarb in dem Schweizer Bergdorf Saas-Fee im Oberwallis das Haus Vogelweid, ließ sich dort nieder und ersetzte 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft durch eine österreichische.

 

In Saas-Fee lebte Zuckmayer sich schnell ein. Schon 1961 verlieh ihm Gemeinde die "Ehrenburgerschaft". Fünf Jahre später konnte Zuckmayer seinem Verleger Gottfried Bermann-Fischer melden: "Die Schweizer empfinden mich jetzt als einen der Ihren, was ich nun auch staatsbürgerlich bin." Elf Jahre vor seinem Tod am 18. Januar 1977 fand damit seine Odyssee, die ihn von Nackenheim, nach Mainz, dann durch ganz Deutschland und halb Europa, schließlich in die USA und am Ende mit Umweg über Österreich zum Schweizer Staatsbürger gemacht hat, ein Ende. "'Daheim' ist nicht, wo man geboren wurde, sondern wo man zu sterben wünscht", erklärte er 1941 in seiner in den USA und England veröffentlichten ersten Autobiographie "Second Wind" (S. 171), und wo er schließlich zu sterben wünschte und auch starb, das war weder Nackenheim noch Mainz, weder Henndorf noch die Backwoodsfarm, sondern Saas-Fee.

Warum diese über 60 Jahre währende Migrationsgeschichte, die mit immer neuen und jedes Mal erfolgreichen Integrationsanstrengungen verbunden war, letztlich so glücklich verlief, hat mehrere Gründe. Der erste Grund ist Zuckmayers Talent zur Freundschaft, das ihn jeder neuen Umgebung sofort Anschluss finden ließ. Der zweite Grund besteht in seiner steten Bereitschaft, in und aus jeder Situation das Beste zu machen, sich an neue Verhältnisse klaglos anzupassen und mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. "Nur in der Verwandlung ist das Leben", erklärte er programmatisch zu Beginn seiner Autobiographie "Second Wind", "das Leben reißt uns in seinen Strom von Abenteuer, Traum und Magie, dem Ungewissen, dem Furchtbaren und Wunderbaren entgegen, – ob Du willst oder nicht. Wandle Dich! Wandle Dich! Vielleicht wird sich die Welt mit Dir wandeln."

 

Mit dieser Anpassungs- und Integrationsbereitschaft geht etwas einher, was für die deutsche Emigration insgesamt typisch war: Sie schloss sich zwar in Gruppen zusammen, kapselte sich aber gesellschaftlich nicht etwa in Ghettos ab und bildete auch keine Parallelgesellschaft aus. Das wurde zweifellos dadurch erleichtert, dass deutsche Emigranten nicht bildungsfern, sondern im Gegenteil überdurchschnittlich gut ausgebildet waren. Und zu guter Letzt spielen natürlich auch Zahlen eine Rolle: Während der NS-Zeit emigrierten aus Deutschland 360.000 Menschen und weitere 140.000 aus Österreich. Mit 130.000 Menschen fand von ihnen etwa ein Viertel Zuflucht in den USA, alle anderen verteilten sich auf über 80 weitere Länder, darunter Argentinien (35.000), Brasilien (16.000), Shanghai (18.000), Südafrika (5.500) und Russland (3.000).

Man sieht unschwer, dass sich die gegenwärtige Migrationsbewegung aus Ländern wie Syrien, Irak oder Afghanistan nach Europa in fast jeder Hinsicht von der deutschsprachigen Emigration während der NS-Zeit unterscheidet. Sie ist erheblich umfangreicher, und die kulturellen Anschlussmöglichkeiten sind entschieden geringer. Sie erfolgt auch ungeordneter, denn eine Einreise ohne Pass und Visum etwa in die USA war damals wie heute völlig undenkbar. Da die US-Einwanderungsquote ausgeschöpft war, musste Zuckmayer sogar Anfang Dezember nach Havanna reisen, um dort ein non-quota-Einreisevisum zu beantragen. Dass es ihm bewilligt wurde, lag nicht zuletzt an Empfehlungsschreiben von Marlene Dietrich, Albert Einstein, Ernest Hemingway, Benjamin Hübsch, Thomas Mann und Thornton Wilder, wobei besonders das Affidavit von Marlene Dietrich großen Eindruck auf den Konsularbeamten machte.

Im Übrigen darf man nicht übersehen, dass gegenüber den deutschsprachigen Migranten trotz der vergleichsweise überschaubaren Größenordnung, trotz der relativ geringen kulturellen Differenzen und trotz der Integrationsbereitschaft und -fähigkeit zumindest die US-amerikanische Administration Vorsicht walten ließ: Wie viele andere emigrierte Schriftsteller stand auch Zuckmayer als „enemy alien“, als „feindlicher Ausländer“, unter Beobachtung des FBI, kurioserweise auch noch, als er für das „Office of Strategic Services“, den ersten Auslandsgeheimdienst der USA und Vorläufer des CIA, seinen 2002 aus dem Nachlass veröffentlichten „Geheimreport“ schrieb.

 

Nimmt man alles in allem, so muss das Zwischenfazit lauten, dass sich aus der Geschichte der deutschsprachigen Emigration während der NS-Zeit kaum Lehren für die Gegenwart ziehen lassen. Das gelingt vielleicht eher mit Blick auf die zwölf bis vierzehn Millionen Menschen, die in den Jahren 1945 bis 1950 aus den deutschen Ostgebieten flohen oder vertrieben wurden. Ihre Integration gelang sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR  ‒ wenn auch keineswegs reibungslos. Auch das ist ein Kapitel aus der Geschichte der Völkermühle Europas, bei dem Zuckmayer jedoch nicht als Zeitzeuge dienen kann, denn er hat sich damit nie eingehend befasst.

 

III. Heimat im Wandel

 

Für Zuckmayer bedeutete die Emigration nicht nur den Verlust seiner Geburtsheimat, sondern auch seiner Wahlheimat, was er als viel schlimmer empfand. In eigentümlichem Kontrast dazu steht seine nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Vereinnahmung als rheinhessischer Dichter, ja als Heimatdichter. Doch selbst, wenn Zuckmayer mit seinem Erfolgsstück „Der fröhliche Weinberg“ eine Hommage auf seine rheinhessische Heimat beabsichtigt gehabt haben sollte, dann stieß sie jedenfalls zunächst ganz und gar nicht auf Gegenliebe. Am Tag der Mainzer Erstaufführung demonstrierten zwischen 6.000 und 7.000 Landwirte zugleich „gegen höhere Steuern und den ‚Fröhlichen Weinberg‘“, wie der „Frankfurter Generalanzeiger“ am 11. März 1926 berichtete.

 

Am Ort der Uraufführung, in Berlin, war es nicht die regionale Besonderheit, die zur Wirkung des Stücks beitrug, sondern sein Anachronismus. Auch wenn die Zeit der Handlung das noch nicht weit zurückliegende Jahr 1921 abgibt, war es geradezu ein Gegenbild zu einer beschleunigten Modernisierung, für die die Metropole Berlin einstand. Mit landschaftlichem Kolorit drapierte Fragen wie die, ob die Tochter des Weingutbesitzers Gunderloch am Ende den unsympathischen Korpsstudenten Knuzius oder nicht doch den eigenwilligen, aber liebenswerteren Rheinschiffer Jochen heiraten wird, fiel das Stück gleichsam aus der Gegenwart.

 

Das gilt auch für Zuckmayers nächste Stücke. In "Schinderhannes", 1927 am Berliner Lessingtheater uraufgeführt, griff er die Lebensgeschichte des 1803 hingerichteten Räuberhauptmanns Johannes Bückler aus dem Hunsrück auf, in "Katharina Knie", 1928 ebenfalls am Berliner Lessingtheater uraufgeführt, schilderte er den Niedergang eines Wanderzirkus in den Inflationsjahren 1923/24.

 

Soweit in diesen Stücken Heimat nicht nur eine Requisite ist, sondern sentimentalisch beschworen wird, ist es eine verlorene oder zumindest in ihrem Bestand gefährdete Heimat. Das befriedigte offenbar nicht nur beim Berliner Großstadtpublikum Kompensationsbedürfnisse, ließ aber gerade in Berlin durch den Kontrast mit der Wirklichkeit die Modernisierungsgeschwindigkeit in den 1920er Jahren sinnfällig werden und zeigte, dass Heimat nichts Statisches ist.

 

Sie erweist sich vielmehr als ein Ort der sehnsüchtigen Projektion, so zum Beispiel für Wilhelm Voigt, die Hauptfigur in Zuckmayers Stück "Der Hauptmann von Köpenick", das 1931 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt wurde. Auf die Frage eines Oberwachtmeisters, warum er denn nicht in Bukarest geblieben sei, wo er eine Arbeit bei einem Schuhfabrikanten gefunden hatte, antwortet Voigt: "Weil ich – ich habe mir eben so sehr zu Hause jesehnt. […] Det glaubese jarnich, wie scheen Deutschland is, wenn man weit wech is und immer nur dran denkt." Er fügt aber sofort hinzu: "Det war dumm von mir." (Zuckmayer, Hauptmann von Köpenick, S. 19f.) Je größer der zeitliche Abstand ist, desto weniger lassen sich Erinnerungsbild und Wirklichkeit zur Deckung bringen, eine Erfahrung, die Zuckmayer selbst machen musste, als er Ende 1946 nach acht Jahren des Exils erstmals wieder nach Deutschland zurückkehrte. Bei seiner ersten Fahrt durch Berlin begleitete ihn der Regisseur Boleslaw Barlog, der darüber in seinen Lebenserinnerungen berichtete:

 

"Wir wählten auf seinen Wunsch unseren Weg so, daß wir durch den Tiergarten fuhren und später über den Lützowplatz, den Wittenbergplatz, den Bahnhof Zoo und den Kurfürstendamm entlang. So sah Zuckmayer zum erstenmal sein zerstörtes Berlin wieder: unter einem mondhellen Nachthimmel den einstigen Tiergarten, damals nur noch eine Wüste von Baumstümpfen, Denkmalstrümmern und Schrebergärten, die provisorisch und häßlich eingezäunt, den hungernden Berlinern ein wenig Gemüse und ein paar Kartoffeln liefern sollten. Weiterhin reichte der Blick vom zerstörten Hansaviertel bis zu den Resten des Tiergartens, von den Trümmern des alten Reichstages neben dem Brandenburger Tor bis zu den Überresten der Technischen Hochschule in Charlottenburg. […] Wir alle sprachen kaum ein Wort, denn die vom Krieg zerstörte Landschaft sprach für sich. […] Als uns Zuckmayer am Ende dieser Fahrt verließ, wurde kein Wort gesprochen, weder von ihm, noch von uns. Bei dem stummen Händedruck des Abschieds am Ende der Fahrt sah ich nur, daß seine Augen voller Tränen waren." (Barlog, Theater Lebenslänglich, S. 291f.)

 

Auch Mainz bot kein anderes Bild. Seitdem bei den nächtlichen Luftangriffen am 12. und 13. August 1942 das Haus der Familie zerstört wurde, lebten seine Eltern in Oberstdorf. Nach Mainz kehrten sie nicht mehr zurück. Selbst wenn Zuckmayer sich dort wieder hätte niederlassen wollen, wäre es die Stadt seiner Jugend nicht mehr gewesen. Zu 80 Prozent wurde sie während des Zweiten Weltkriegs zerstört. War es also Nostalgie, wenn Zuckmayer in seiner 1959 veröffentlichten Erzählung „Die Fastnachtsbeichte“ Mainz am Vorabend des Ersten Weltkriegs als Schauplatz wählte? Ein bisschen vielleicht, aber mehr sicher nicht.

 

IV. Zuckmayers Erzählung "Die Fastnachtsbeichte"

 

Die 1959 als Buch veröffentlichte Erzählung "Die Fastnachtsbeichte" war ein ansehnlicher, wenn auch kein überragender Verkaufserfolg. Sie brachte es innerhalb der ersten zwei Jahre mit dem 65.-76. Tausend immerhin bis zur neunten Auflage. (1965 folgte noch eine Buchclubausgabe im Bertelsmann-Lesering, deren Auflagenhöhe angesichts des gezahlten Lizenzhonorars von 120.000 DM sechsstellig gewesen sein dürfte.)

 

Die frei erfundene Geschichte spielt im Jahr 1913. Handlungsort ist neben Mainz das fiktive Weingut Kedderichsbach, von dem es in Text heißt, es liege "zwischen Walluf und Eltville" und sei "von Mainz aus am besten mit dem zum rechten Rheinufer hinüberfahrenden Dampfschiff zu erreichen" (S. 169). Dieses Weingut befindet sich „seit Generationen im Besitz der Familie Panezza“, und wie dieser Name vermuten lässt, hat diese Familie italienische Wurzeln. Das gilt nicht nur für das Familienoberhaupt Adelbert Panezza, sondern auch für dessen Frau Clotilde, die "eine geborene Moralter" ist, "aus Südtirol stammend und halb sizilianischer Abkunft".

Ist der innerfamiliäre Multikulturalismus bis hierhin noch gut überschaubar, so wird er durch erotische Seitensprünge doch zu einem reichlich komplizierten Beziehungsgeflecht. Die Verwicklungen beginnen damit, dass der alte Panezza mit der Amme seines Sohnes Jeanmarie einen illegitimen Sohn zeugt: Ferdinand. Der Fehltritt wird vertuscht; Ferdinand wächst als Ferdinand Bäumler bei seiner Mutter auf. Er gerät auf die schiefe Bahn, muss als junger Mann wegen einer Unterschlagung aus Mainz fliehen, heuert bei der französischen Fremdenlegion an, desertiert aber und schlägt sich nach Sizilien durch, wo er, angeblich „auf einer Weltreise begriffen“ (S. 391), sich gegenüber der Kusine Jeanmarie Panezzas, Viola Moralto, als Jeanmarie vorstellt. Viola, die Jeanmarie zuletzt als vierjähriges Mädchen gesehen und ihn damals schon einmal geküsst hatte, verliebt sich in ihn gleichsam erneut und wird schwanger. Doch als sie bemerkt, in anderen Umständen zu sein, hat sich der falsche Jeanmarie schon wieder auf und davon gemacht ‒ nach Mainz. Dorthin reist nun auch sie, zum richtigen Jeanmarie. Just an dem Tag, als sie unangemeldet auf dem Weingut der Panezzas eintrifft, wird der falsche Jeanmarie, im Mainzer Dom tot aufgefunden. Er wurde ermordet, und als Mordwerkzeug diente ein sizilianisches Stilett.

 

Die Konstruktion erscheint wie dazu ersonnen, die These von der Völkermühle Europas nochmals in Szene zu setzen, was in der bisherigen Rezeption dieses Textes erstaunlicherweise völlig unbemerkt blieb. So lobte Friedrich Sieburg Zuckmayers "Unbefangenheit, die in Deutschland so selten" sei und störte sich nur daran, dass "der geheimnisvolle, gleichsam raunende Tonfall des 'Es war einmal' […] bisweilen dem Redensartlichen geopfert" werde (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 1959). Doch weder Sieburg noch ein anderer Rezensent, ging mit einem Wort darauf ein, dass Zuckmayer en passant eine erfolgreiche Migrationsgeschichte erzählt hat, denn die Familie Panezza ist so gut in die Mainzer Gesellschaft integriert, dass angesichts der sizilianischen Mordwaffe der Verdacht nicht auf sie fällt, sondern sofort auf "e paar hunnert italienische Chaussee-Arbeiter in der Stadt" (S. 231), von denen sich herausstellen wird, dass keiner von ihnen der Mörder war.

 

Auch setzt Zuckmayer ganz nebenbei in Szene, wie Juden in der deutschen Gesellschaft auch schon vor dem Ersten Weltkrieg stigmatisiert und diskreditiert wurden. Nachdem ein junger Rechtsanwalt, seinem als mutmaßlicher Mörder (irrtümlich) verhafteten Mandanten die Rechtslage erläutert hat, entspinnt sich nämlich folgender Dialog:

 

„‚Danke, Herr Levisohn‘, sagte der Oberstaatsanwalt Classen mit einer merkwürdigen Betonung.

‚Dr. Levisohn‘, sagte der junge Anwalt.

‚Danke, Herr Doktor Levisohn‘, wiederholte Classen, wobei er den Namen noch ausgeprägter betonte.

‚Herr Doktor genügt‘, sagte Levisohn, der erblaßt war.

‚Das haben nicht Sie zu bestimmen‘, fuhr Classen ihn an.“ (S. 217)

 

An solche Formen des Antisemitismus in einer Stadt zu erinnern, aus der während der NS-Zeit etwa 1.300 Juden in die Emigration getrieben wurden, verstand sich 1959 noch nicht von selbst. Umso seltsamer ist es, dass auch dieser Umstand von den Rezensenten genauso wenig hervorgehoben wurde wie die Tatsache der ungewöhnlichen Kreation einer alteingesessenen deutsch-italienischen Mainzer Familie, noch dazu verbunden mit der Zutat italienischer Gastarbeiter „für die neu Chaussee nach Zahlbach un Bretzenheim“ (S. 231), obwohl die Arbeitsmigration von Italienern nach Deutschland in Folge des deutsch-italienischen Anwerbeabkommen von 1955 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Erzählung gerade erst begonnen hatte und erst nach der Einführung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer beider Länder im Jahr 1961 binnen weniger Jahre auf 580.000 Menschen stieg.

 

Auch dadurch akzentuierte Zuckmayer das stete Mahlen der Völkermühle Europas, zeigte aber darüber hinaus, wie sehr Identität auch in anderer Hinsicht ein fragiles Konstrukt ist. Denn der alte Panezza ist sicher, dass letztlich er am Schicksal seines illegitimen Sohnes die Schuld trägt. Im Beichtstuhl bekennt er: „Ich habe ihn doch in den Tod getrieben und, was schlimmer ist, ins Leben ‒ aber an ihm klebt die Schande eines schlechten, unehrlichen Lebens …“ Und er fragt: „Soll ich den falschen Schein bestehen lassen, daß nur die armen Leute unehrlich sind? Er war mein Sohn ‒“ (S. 256) Doch der Domkapitular Henrici rät von einem öffentlichen Schuldbekenntnis ab: „Ein Autodafé ist noch keine Tugend, eine Selbstzerstörung noch lang keine Entsühnung. Sie kämen sich als Märtyrer vor ‒ und andere müßten zahlen. Ihre Kinder zum Beispiel ‒.“ Deshalb mahnt Henrici den alten Panezza eindringlich: „Sie dürfen nicht aus Ihrer Rolle fallen!“ (S. 258). Damit aber macht der Autor der Erzählung „Die Fastnachtsbeichte“ für den Leser auch unmissverständlich deutlich, wie sehr Identität tatsächlich eine Rolle ist, und das gilt für die soziale Identität nicht minder als für die lokale, regionale und nationale.

 

V. Literatur

 

Arndt, Ernst Moritz: Blick auf die Zeit. Germanien 1814.

Barlog, Boleslaw: Theater lebenslänglich. München 1981.

Becker, Jochen: Carl Zuckmayer und seine Heimaten. Ein biographischer Essay. Mainz 1989.

Nickel, Gunther/Weiß, Ulrike: Carl Zuckmayer. Marbach 1996 (= Marbacher Kataloge, hrsg. von Ulrich Ott und Friedrich Pfäfflin; 49).

Zuckmayer, Carl: Als wär's ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Frankfurt am Main 1997 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer).

Zuckmayer, Carl: Bekenntnisse. In: Deutscher Theaterdienst, Jg. 1, 1928, Nr. 10, Zweite Weihnachts-Ausgabe.

Zuckmayer, Carl: Des Teufels General. In: Ders.: Des Teufels General. Theaterstücke 1947-1949. Frankfurt am Main 1996 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer), S. 7-158.

Zuckmayer, Carl: Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Hrsg. von Gunther Nickel, Johanna Schrön und Hans Wagener. Göttingen 2004.

Zuckmayer, Carl: Die Fastnachtsbeichte. In: Ders.: Die Fastnachtsbeichte. Erzählungen 1938-1972. Frankfurt am Main 1996 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer), S. 163-310.

Zuckmayer, Carl: Geheimreport. Hrsg. von Gunther Nickel und Johanna Schrön. Göttingen 2002.

Zuckmayer, Carl: Von Kiel nach München. In: Ders.: Die langen Wege. Betrachtungen. Frankfurt am Main 1996 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer), S. 11-16.

Zuckmayer, Carl: Second Wind. In: Zuckmayer-Jahrbuch, hrsg. von Gunther Nickel und Erwin Rotermund, Bd. 12, 2013/14, S. 33-191.

Zuckmayer, Carl/ Joseph, Albrecht: Briefwechsel 1922-1972. Hrsg. von Gunther Nickel. Göttingen 2007.

Zuckmayer, Carl/Bermann-Fischer, Gottfried: Briefwechsel. 2 Bde. Hrsg. von Irene Nawrocka. Göttingen 2004.