"Die einzig wahre Frage"

Julian Barnes: Die einzige Geschichte. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019. 304 S.

 

Es ist keine proustische Genauigkeit, die der Erzähler in Julian Barnes Roman anstrebt, obwohl auch er seine Lebensgeschichte erinnern und erzählen will. Im Gegenteil: Dieses Erinnerungsprojekt ist mit Vorsatz ungenau, und der Erzähler erhebt gleichwohl den Anspruch auf Wahrheit: "[I]ch folge meinen Erinnerungen an die Vergangenheit, ich rekonstruiere sie nicht. […] Ich versuche hier nicht, Ihnen eine Geschichte auszumalen; ich versuche, Ihnen die Wahrheit zu erzählen." (S. 54)

 

Was ist das für eine Wahrheit, bei der man sich um Genauigkeit gar nicht schert? Um die Frage zu beantworten, muß zunächst gesagt werden, daß "Die einzige Geschichte" von der Geschichte einer Liebe handelt, einer Liebe, die beginnt als er 19 und sie 48 Jahre alt ist (der Klappentext ist da etwas irreführend, denn in ihm ist von einer "fast zwanzig Jahre älteren" Frau die Rede). Diese Liebe ist im ersten des dreigeteilten Romans mehrerlei: sehr, sehr glücklich, ein gesellschaftlich mißbilligter Konventionsbruch und ein Ehebruch. Erzählt wird das, was bei dieser Konstellation erwartbar ist, und gäbe es nicht Hinweise darauf, daß diese Liebe noch eine sehr unschöne Wendung nehmen wird, wäre die Anteilnahme am erzählten Geschehen gedämpfter.

 

Der zweite Teil indes läßt deutlich werden, daß der Erzähler wesentliche Facetten der von ihm geliebten Frau nicht kennt, ohne daß das der Liebe einen Abbruch tut. Aber es ist eben nicht die ganze Persönlichkeit des Gegenübers, die er liebt und lieben kann, denn Teile, die mit dem ehelichen Vorleben zusammenhängen, werden sich ihm auch nie erschließen. Sie bleiben ihm nahezu unverfügbar, obwohl sie Wirklichkeit zumindest mitbestimmen ("die Vorgeschichte regierte", S. 280), und das um so mehr, je mehr, je älter das geliebte Gegenüber ist und je mehr entsprechend an unverfügbarem Leben bereits zur Lebensgeschichte geronnen ist. Das freilich ist zunächst mehr eine Einsicht, die der Leser gewinnen kann, wenn er den erinnernden Beobachter und Erzähler seines Lebens genauer beim Beobachten beobachtet und dabei einen wechselnden Beobachterstandpunkt bemerkt: mal erzählt er in der ersten, mal in der dritten Person Singular (wodurch er freilich den blinden Fleck jedes Beobachters nicht zum Verschwinden bringt).

 

Im dritten Teil erfährt man, wie dem Erzähler die geliebte Frau durch ihren Alkoholismus abhanden kommt. Sie ist irgendwann nicht mehr, die sie einmal war, landet schließlich in der Psychiatrie und dem Erzähler wird es daher – wohl auch, vielleicht sogar in erster Linie – zur Aufgabe, die geliebt Frau "richtig in Erinnerung zu behalten": "Damit meinte er nicht: korrekt, Tag für Tag, Jahr für Jahr, vom Anfang über die Mitte bis zum Ende. Das Ende war entsetzlich gewesen und der Anfang von viel zu viel Mitte überschattet. Nein, er meinte es so: Es war seine letzte Pflicht ihnen beiden gegenüber, sie so in Erinnerung zu behalten und zu bewahren, wie sie in der Zeit ihres Zusammenseins gewesen war." (S. 232 f.) "Er wusste nicht, ob er das damals wirklich alles gemacht hatte, mir ihr; einiges vielleicht später, einiges sogar mit anderen Leuten. Aber es waren Erinnerungen, wie er sie braucht, und sie brachten Susan zu ihm zurück, selbst wenn sie gar nicht dabei gewesen war." (S. 235)

 

An solche Reflexionen knüpfen sich grundsätzlichere: "Ein Eintrag in seinem Notizbuch lautete natürlich: 'Es ist besser, die Liebe erfahren und verloren zu haben, als nie geliebt zu haben." (S. 235) Oder: "Seltsam, dass man als junger Mensch nicht der Zukunft verpflichtet ist; aber als alter Mensch ist man der Vergangenheit verpflichtet. Dem Einzigen, was man nicht ändern kann." (S. 239) Oder: "In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich; sie ist das einzige Thema, über das man unmöglich etwas Absurdes sagen kann." (S. 241) Oder: "Liebe, selbst die glühendste und aufrichtigste Liebe, kann, wenn man es richtig anstellt, zu einem Gemisch aus Mitleid und Zorn gerinnen." (S. 248) Oder: "Du wirst immer drinstecken. Nein, nicht im wörtlichen Sinn. Aber mit dem Herzen. So etwas endet nie, nicht, wenn es so tief gegangen ist. Du bleibst auf ewig verwundet." (S. 251) Oder: "Was einmal gesagt wurde, lässt sich nicht ungesagt machen. Wir können weitermachen, als wäre nicht verloren gegangen, nichts geschehen, nichts gesagt worden; wir können behaupten, dass wir alles vergessen; doch unser innerster Kern vergisst nicht, weil es uns für immer verändert hat." (S. 281) Oder: "Vielleicht war die Liebe niemals in einer Definition zu erfassen; sie war überhaupt nur in einer Geschichte zu erfassen." (S. 294)

 

Am Anfang des Romans, steht die Frage nach der Wahrheit des Erzählens. Die Antwort ist eine individuelle und existentielle: "Sie hatte ihm erklärt, dass jeder Mensch seine Liebesgeschichte hat. Selbst wenn sie eine Katastrophe war, selbst wenn sie im Sande verlief, gar nicht in Gang kam oder überhaupt nur in Gedanken stattfand: Das machte sie nicht weniger real. Und es war die einzige Geschichte." (S. 271) Von hier aus und mit dem Wissen um Glück und Ende der erzählten Liebesgeschichte, stellt sich eine andere Frage, die, mit der der Roman sehr effektvoll beginnt, nicht grundlegend anders, aber mit einer reichhaltigeren Färbung und Intensität ("mit gleichsam geschärfter [...] Wahrnehmung", S. 286): "Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden? Das ist, glaube ich, am Ende die einzig wahre Frage."