Alphabetisches Kapital

Ein Beitrag von Michal Esders in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift TUMULT gab mir den Anlaß, mir sein letztes Buch zu kaufen und es zu lesen. Es trägt den Titel „Alphabetisches Kapitel. Über die Ökonomie der Bedeutungen“[1] und zählt zu den anregendsten Beiträgen eines Literaturwissenschaftlers, die mir in den letzten Jahren vor Augen gekommen sind. In den überregionalen Feuilletons wurde es indes nirgends rezensiert.

 

Um kurz zu erläutern, warum es mir sehr gefällt, möchte ich einen kleinen Umweg wählen, der mit Walter Benjamins gern zitiertem Essay „Der Erzähler“[2] beginnt. „Der Erzähler“, heißt es dort im ersten Satz, „ist uns in seiner lebendigen Wirksamkeit keineswegs durchaus gegenwärtig.“ Eine Ursache dafür sei, daß „die Erfahrung […] im Kurse gefallen“ sei. „Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber.“ An die Stelle des Erzählens trete in der Moderne eine „neue Form der Mitteilung“: „die Information“.

 

Den Beginn des Bedeutungsverlust des Erzählens setzt Benjamin historisch aber nicht erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, sondern viel früher an, nämlich schon in der frühen Neuzeit mit der Ablösung des Epos durch den Roman. Diese Ablösung wiederum sei „eine Begleiterscheinung“ dessen, was Georg Lukàcs in seiner „Theorie des Romans“ als „transzendentale Obdachlosigkeit“[3] des modernen Menschen bezeichnete.

 

Gerade durch die transzendentale Obdachlosigkeit, so mein Einwand gegen Benjamins Überlegungen, gewinnt das Erzählen aber wieder an Bedeutung, denn es vermag Orientierung zu geben oder wenigstens temporären Trost und damit den Transzendenzverlust – ganz im Sinne der Kompensationstheorie Joachim Ritters[4] und Odo Marquardts[5] – zu kompensieren. Deshalb unterstreicht ein Schriftsteller wie Michael Köhlmeier in seinem Werk auch die Bedeutung des Erzählens, ohne daß es deswegen auch nur ansatzweise antiquiert anmuten würde.[6]

 

Michael Esders ist mit der These vom „Tod des Erzählers“ ebenfalls nicht einverstanden, denn, wie er in seinem Buch „Die enteignete Poesie“ schreibt: „Die Information, für Benjamin der Totengräber des Erzählens und Zuhörens, muss selbst die Gestalt einer Story annehmen, muss sich in eine Geschichte verwandeln, wenn sie überhaupt wahrgenommen werden will. Die Verbreitung einer Information ist von ihrem narrativen Potential abhängig. […] Fortwährend erzählt wird auch und gerade dort, wo Bilder das Wort ersetzen: im Kino, im Fernsehen, in der Werbung, im Internet. Die Kultur- und Bewusstseinsindustrie ist eine Geschichtenindustrie.“[7] Sie beutet die schöne Literatur dergestalt aus, daß sie sich alle ihre Mittel aneignet, wodurch sie literarisch nicht mehr ohne weiteres brauchbar geworden sind.

 

Das eine wäre nun die Frage, wie Literatur auf eine solchen Prozeß reagieren kann (ein paar Überlegungen dazu stellt Esders am Ende seines Buchs „Die enteignete Poesie“ an), eine andere ist, und sie interessiert Esders mehr: Wie und mit welchen Folgen setzt sich der Enteignungsprozeß fort? Dieser Frage widmet er sich in seinem dritten und bislang umfangreichsten Buch „Alphabetisches Kapital“ unter anderem dadurch, daß er rekapituliert, nach welchen Prämissen Algorithmen etwa bei Suchmaschinen wie Google oder in Sozialen Medien wie Facebook arbeiten: Es sind bibliometrische. Häufigkeit wird dabei ein sehr hoher Wert, Seltenheit ein sehr niedriger zugewiesen, denn was häufig gesucht wird, ist besonders interessant, um es Werbekunden offerieren. Das aber hat auch Rückwirkungen auf die Textproduktion. Wer häufig gefunden werden will, erstellt suchmaschinenoptimierte Texte, die stark frequentierte Suchbegriffe enthalten.

 

„Die Strategien zur maschinengerechten Optimierung“, kommentiert Esders diesen Prozeß, „bleiben den Texten nicht äußerlich, sondern wirken stilprägend. Weil vorrangig das lexikalische Material über den Erfolg eines Textes entscheidet, treten syntaktische Anforderungen in den Hintergrund. Suchmaschinen-Nutzer geben Suchbegriffe meist in den Grundformen Nominativ oder Infinitiv ein. Deshalb werden auch die Keywords in diesen Formen verwendet. Flexionsendungen würden den Erfolg im Ranking gefährden. Zudem wird das Wort gegenüber dem Satz privilegiert, der lediglich als potenzielles ‚Longtail-Keyword‘ wahrgenommen wird.“ (S. 82 f.) „Die Algorithmen […] gewichten keine Vernunftgründe, sondern […] den aufmerksamkeitsökonomischen Kurswert von Begriffen.“ (S. 97). „Kommunikation insgesamt [wird] zu einem Epiphänomen der Verwertung.“ (S. 99) „Lektüre ist keine individuelle Lesart [mehr], sie ist ein nach bestimmten Parametern erfassbares Verhalten. […] Die Schwerpunkte sprachlicher Wertschöpfung verlagern sich [dadurch] von der Text- auf die Wortebene. Genauer: Sie verlagern sich von der klassischen Contentent-Produktion zu einer synergetischen Wort- und Datenverwertung, die alle textuellen Ebenen einbezieht.“ (S. 117) „Der Content ist [dann] nur [noch] Vorwand, muss aber als Hauptsache erscheinen.“ (S. 119)

 

„Man könnte indes die Texterkennung auch umfunktionieren und als Abnutzungsindikator verwenden, indem man alle vorgeschlagenen Wörter meidet.“ (S. 129) In der gegenwärtigen Praxis aber ist der „Weg von der Marginalisierung der Abweichung zu ihrer Pathologisierung und Stigmatisierung […] nicht weit.“ (S. 132) „Die ökonomische Verwertung von Sprache und Kommunikation [bleibt allerdings] an die menschliche Ressource Aufmerksamkeit gekoppelt […]. Beachtung hat kein algorithmisch erzeugbares Äquivalent.“ (S. 148) Daher könnte sich das Erzählen „mittelfristig als die entscheidende Bewährungsprobe für das Geschäftsmodell der algorithmischen Wortverwertung erweisen. Narration ist das Gegenteil eines Programms. Erzählen lebt von der Abweichung, der Überraschung, dem Unvorhergesehenen.“ (S. 173) Wir sollten es allerdings, muß man zwei Jahre nach Erscheinen von Esders anregendem Buch wohl dazu sagen, auch nicht Journalisten vom Typus Relotius überlassen.[8]

 

 

[1] Bielefeld: Aisthesis 2017.

[2] In: Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt/M. 1955, S. 385 ff.

[3] Berlin: Paul Cassirer 1920, S. 23 f.

[4] Vgl. Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 141 ff.

[5] Vgl. Odo Marquardt: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz in der Philosophie. In: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart: Reclam 1981, S. 23 ff.

[6] Vgl. dazu mein Köhlmeier-Portrait im „Literaturblatt für Baden-Württemberg“: www.literaturblatt.de/heftarchiv/heftarchiv-2018/62018-inhaltsverzeichnis-der-gedruckten-ausgabe/joyce-ist-nicht-schulfaehig-der-erzaehler-michael-koehlmeier.html

[7] Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 26 ff.

[8] Dazu instruktiv der Essay „Hört auf mit Euren Geschchten!“ von Lukas Bärfuss: https://www.republik.ch/2019/01/19/hoert-auf-mit-euren-geschichten