Andreas Reckwitz und sein Befund einer erschöpften Selbstverwirklichung

Zum Jahreswechsel habe ich mich ausgiebig mit den Überlegungen des Soziologen Andreas Reckwitz zum Strukturwandel der Moderne beschäftigt, die mir sehr hilfreich erscheinen, um zum Beispiel die wachsende Zustimmung zu erklären, die sowohl rechtes als auch linkes Identitätsdenken erfährt. Es ist ja offenkundig nicht damit getan, wie etwa der Politikwissenschaftler Mark Lilla nach der Wahl Donald Trumps die Abkehr der Linken von ihren klassischen (ökonomischen) Themen zu beklagen und damit gleichsam die Rückkehr zu diesen Themen als Lösungsweg anzubieten. Aber warum ist das so?

 

Folgt man Reckwitz, dann ist das eine Folge eines gesellschaftlichen Strukturwandels, der nicht nur die Ökonomie betrifft, aber sich auch dort spürbar bemerkbar macht. Zwar gebe es noch standardisierte (fordistische) Massenproduktion, sie trete aber zunehmend gegenüber der Produktion dessen, was Reckwitz „Singularitäten“ nennt in den Hintergrund. Für Singularitätsgüter ist nicht entscheidend, daß sie funktional sind, sondern daß ihnen ein „kultureller Wert“ oder eine „kulturelle Qualität“ zukommt, die sie allererst attraktiv macht. Dieses Phänomen habe es zwar schon immer gegeben, es werde in der Ökonomie der Spätmoderne aber in vielen Bereichen von einer Begleiterscheinung zum dominanten Merkmal.

 

Bemerkbar macht sich das sowohl bei der Produktion dieser Güter als auch bei der Wertschöpfung. Denn um etwa einen Markenturnschuh im Hochpreissegment herzustellen und erfolgreich zu verkaufen, kann man die reinen Produktionskosten schon fast vernachlässigen. Verkauft wird in erster Linie ein Image. Und mit der Herstellung von Images und ihrer Etablierung sind immer größere Bereiche der Wirtschaft beschäftigt.

 

Dabei bilden diejenigen, die mit der Konzeption und Vermarktung von Singularitätsgütern befaßt sind, eine neue, ganz überwiegend urbane Mittelschicht, die durch eine „singularistische Lebensführung“ gekennzeichnet ist. Diese Mittelschicht ist einerseits zu unterscheiden von der alten Mittelschicht, die zwar in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen lebt, gegenüber der singularistischen Kulturalisierung der Lebenswelt aber distanziert bleibt, sowie andererseits die neue Unterschicht, die entweder in prekären Beschäftigungsverhältnissen des Dienstleistungsbereichs perspektivlos ihr Auskommen finden muß oder durch eine Grundsicherung alimentiert wird. „Die spätmoderne Gesellschaft“, so Reckwitz zusammenfassend in seinem Buch „Das Ende der Illusionen“ (2019), „ist keine Gemeinschaft, kein homogenes Kollektiv und wird es auch niemals sein. Sie ist in Lebensstilen pluralisiert, in Klassen stratifiziert und multiethnisch.“ (S. 290)

 

Charakteristisch ist für den dominanten und daher weithin als erstrebenswert geltenden Lebensstil der neuen Mittelschicht, daß mit ihm ein Subjektideal ausgebildet wird, bei dem sich der gesellschaftliche Status daraus ergibt, wie erfolgreich man seine eigene Singularität sichtbar machen kann. Da ein ökonomisch erfolgreiches Leben etwa als weltzugewandter Kreativer aber nur wenigen tatsächlich möglich ist, bringt die spätmoderne Gesellschaft „systematisch negative Emotionen von erheblicher Intensität hervor“ (ebd., S. 221). Hinzu kommen Verlusterfahrungen und Abstiegsängste der alten Mittelschicht sowie Perspektivlosigkeit der ins Prekariat Abgedrängten.

 

Auf Basis dieser analytischen Beschreibung der spätmodernen Gesellschaft, lassen sich eine ganze Reihe von Phänomenen besser verstehen, etwa das Erodieren der Sozialdemokratie. Aber auch das Aufkommen eines nicht nur rechten, sondern auch eines linken Identitätsdenkens wird durch den gesellschaftlichen Strukturwandel offenkundig begünstigt. Die Forderung nach mehr Diversität, die in einem höchst spannungsvollen Verhältnis zur gleichzeitigen Forderungen nach mehr Inklusion steht, ist jedenfalls vollständig anschlußfähig an Prozesse der singularistischen Kulturalisierung.

 

Dazu von Andreas Reckwitz:

 

Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück 2006.

 

Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp 2012.

 

Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp 2019.

 

Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp 2019 (edition suhrkamp; 2735).