Armin Nassehi liest Andreas Reckwitz

Wenn der Soziologe Armin Nassehi das jüngste Buch seines Kollegen Andreas Reckwitz bespricht, ist Widerspruch geradezu vorprogrammiert. Nassehi ist u.a. Mitherausgeber des (sehr guten) Luhmann-Handbuchs, und wie Luhmann beschreibt und analysiert er die moderne Gesellschaft als eine funktional differenzierte Gesellschaft, also als eine, die in Teilsysteme ausdifferenziert ist, die alle nach einer nur für sie eigentümlichen Logik operieren: Im Teilsystem Recht wird (idealiter) nur danach entschieden, ob etwas dem geltenden Recht entspricht oder nicht, im Teilsystem Wirtschaft nur danach, ob etwas verkäuflich ist oder nicht, im Teilsystem Wissenschaft nur danach, ob etwas wahr oder unwahr ist, im Teilsystem Kunst nur danach, ob etwas Kunst ist oder nicht usw. Eine solche funktional differenzierte Gesellschaft läßt sich, obwohl die Teilbereiche noch lose gekoppelt sind, nicht mehr zentral steuern, aber sie akkumuliert in all ihren Teilsystemen und den Subsystemen, die sich in den Teilsystemen wiederum ausbilden, einen großen Reichtum an Spezialwissen.

 

Eine sehr gute Idee Nassehis ist es, unterschiedliche Vertreter solchen Spezialwissens aus diversen Subsystemen bei komplexen und gesellschaftlich wichtigen Themen zusammenbringen zu wollen, damit sich jeder mit der Sichtweise und der Systemlogik aller anderen vertraut macht, um dann gemeinsam zunächst zu einem besseren gemeinsamen Verständnis, dann vielleicht auch zu intelligenten Lösungsvorschlägen für komplexe Probleme zu gelangen.

 

Aber da kommt nun Andreas Reckwitz und holt den marxistisch konnotierten Klassenbegriff wieder hervor und behauptet, unsere moderne Gesellschaft segmentiere sich doch in drei klar bestimmbare Klassen: eine neue Mittelklasse (wirtschaftlich erfolgreich, urban, mobil und sich selbstverwirklichen wollend), eine alte Mittelklasse (materiell gut situiert, sesshaft, ordnungsliebend und kulturell in der Defensive) und ein Prekariat (eine Existenz in der Nähe des Mindestlohns).

 

Es ist nicht erstaunlich, daß Nassehi mit Reckwitz‘ stratifikatorischer Einteilung in diese drei Klassen nicht viel anfangen kann, und so kommt er in seiner Rezension von Reckwitz' jüngstem Buch, die in der vergangenen Woche in der FAZ erschienen ist, nur ganz oberflächlich auf sie zu sprechen (bei der FAZ hinter einer Bezahlschranke; kostenfrei nachlesbar aber hier: https://bit.ly/2TcMuee). Dabei erscheinen mir jedoch beide gesellschaftlichen Beschreibungen brauchbar, je nachdem, welchen Blick man auf die gesellschaftliche Gegenwart wirft und welches -- habermasisch gesprochen -- Erkenntnisinteresse man dabei hat, und ich würde einen weiten Weg auf mich nehmen, um Nassehi und Reckwitz bei einer Podiumsdiskussion zur Frage einer adäquaten Beschreibung des gesellschaftlichen status quo zuhören zu können.

 

Nessehis Kritik am vorletzten Kapitel von Reckwitz‘ Buch leuchtet mir im übrigen auch nur zum Teil ein. Richtig ist, meine ich, doch erstmal Reckwitz‘ Beschreibung, daß eine Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung als oberste Maxime für gelingendes Leben gilt, Mißverfolgserfahrungen und damit Unzufriedenheit maximiert. Was Reckwitz dann indes als Lösungen vorschlägt, nämlich einen „einbettenden Liberalismus“, der kollektive Identitätsbildungen ermöglicht, überzeugt auch mich ebenso wie Nassehi nicht mehr. Ich würde da aber anders argumentieren, als es Nassehi getan hat, nämlich die von Reckwitz nicht beantwortete Frage stellen, auf welchem Weg denn eine solche kollektive Identitätsbildung in einer funktional differenzierten Gesellschaft, die unter bestimmten Gesichtspunkten auch als neue Stratifikation beschreibbare Effekte erzeugt, vor sich gehen soll. Und ich würde das vor allem vor dem Hintergrund der mir wiederum ganz ins Schwarze treffenden Beobachtung von Reckwitz tun, daß bislang nur der (Rechts-)Populismus auf die Probleme in drei Krisenfeldern eine Antwort gibt: dem sozioökonomischen Krisenfeld (u.a. durch Globalisierung), dem soziokulturellen (u.a. durch eine Erosion eines kulturellen Konsenses) und dem demokratiepraktischen (u.a. durch den wachsenden Einfluß internationaler Organisationen und des Rechtswesens auf politische Entscheidungen).