Armin Nassehis "Theorie der überforderten Gesellschaft"

Armin Nassehi hat soeben ein passagenweise etwas akademisches, aber auch sehr anregendes Buch veröffentlicht. Zu dem Urteil, daß es anregend sei, kann man übrigens auch dann gelangen, wenn man etwa zu einem Thema wie dem des Klimawandels, das Nassehi als Beispiel zur Veranschaulichung heranzieht, seine Überzeugung nicht oder nur eingeschränkt teilt. Aber dazu später. Zunächst sei versucht kurz (und notgedrungen natürlich verkürzend) zu umreißen, was das Buch anregend macht.

 

Nassehis Ausgangspunkt ist eine Frage, die ihm häufig von seinen Studenten gestellt wird: „Wie können die Menschen, kann die Menschheit, kann die Gesellschaft so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint? Warum streben die Handelnden, obwohl sie doch die Mittel dazu hätten, nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Problemlösungen wahrscheinlicher machen würde?“ (S. 30)

 

Die Antwort ist zunächst die der klassischen Systemtheorie: Die (westliche) Gesellschaft hat seit dem 18. Jahrhundert zunehmend funktional ausdifferenziert. Gesellschaftliche Subsysteme wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion oder Politik operieren nach jeweils eigenen „Logiken“ (die Niklas Luhmann in unterschiedlichen Leitdifferenzen begründet sah) und erzeugen so, wie Nassehi schreibt, „die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem, das weder sachlich noch sozial vollständig integrierbar oder beherrschbar wird“ (S. 285). Deshalb hat Nassehi schon häufiger den plausiblen Vorschlag gemacht, Vertreter solch unterschiedlichen „Logiken“ ins Gespräch zu bringen, damit sie die verschiedenen gesellschaftlichen Perspektiven pragmatisch miteinander vermitteln. Mit der Entwicklung der Palliativmedizin in den letzten Jahrzehnten liefert er dafür auch ein sehr anschauliches und überzeugendes Beispiel (S. 320 ff.).

 

In seinem neuen Buch erfährt nun zweierlei eine besondere Akzentuierung: Zum einen die Unterscheidung einer Sozialdimension (wer?), einer Sachdimension (was?) und einer Zeitdimension (wann?), was ihm unter anderem dazu verhilft, soziologische und politische Entwürfe zu kritisieren, die nur auf die Sozialdimension abheben. Zum anderen und vor allem widmet er sich gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten, also all jene „Hintergrundüberzeugung[en]“ (S. 264), die nur latent vorhanden sind, im Lebensalltag in der Regel einfach mitlaufen, gar nicht wahrgenommen und nicht diskutiert werden. Man könnte es auch „das Normale“ nennen, und dessen Funktion ist eine Entlastungsfunktion, denn wir wären völlig damit überfordert, ständig alle Aspekte unseres Daseins permanent zu reflektieren oder sogar neu auszuhandeln.

 

Sobald gesellschaftliche Latenzen Gegenstand gesellschaftlicher Debatten werden, wird erstens sichtbar, daß vermeintliche Selbstverständlichkeiten nicht mehr gesellschaftlich selbstverständlich geworden sind. Zweitens wird der Verlust der Selbstverständlichkeiten zur Quelle für Verunsicherungen und Konflikte. Ein Beispiel dafür sind die identitätspolitischen Debatten, in denen unter anderem die Selbstverständlichkeit binärer Geschlechtlichkeit in Frage gestellt wird und dadurch inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Das mag man begrüßen oder für eine Fehlentwicklung halten, ändert aber nichts an dem Befund des Verlust von Selbstverständlichkeiten, auch nicht daran, daß er als krisenhaft empfunden wird.

 

So überraschend wie richtig ist, daß Nassehi seine Analyse hier in Teilen für anschlußfähig an eine konservative Kritik der Moderne etwa durch Arnold Gehlen hält, der krisenhafte Entwicklungen der Gesellschaft durch Institutionalisierungen vorbeugen, sie zumindest abmildern wollte (vgl. S. 255). Bemerkenswert ist auch seine Kritik an politischen Forderungen nach mehr Diversität, etwa weil „die Sprechfähigkeit zur Überwindung der [identitären] Differenz direkt auf die Differenz angewiesen“ sei. Einmal tun sich sogar, ohne daß Nassehi das selbst bemerken würde, Parallelen zu Wolfgang Pohrt auf, dann nämlich, wenn er im Konsum die womöglich wichtigste Sphäre „im Hinblick auf die Inklusion von Personen“ erkennt (S. 296).

 

Die Grenzen der Möglichkeiten einer systemtheoretischen Analyse werden jedoch überschritten, wenn Nassehi immer wieder den Klimawandel als Beispiel einer Krise heranzieht, für die durch Kooperation von Akteuren verschiedener Subsysteme pragmatische Lösung gefunden werden sollen, läßt sich doch die gegenwärtige geopolitische Lage als funktional differenziert beim besten Willen nicht hinreichend beschreiben und begreifen. Ins Gespräch müßten hier vielmehr kapitalistische (wie z.B. die USA), sozialistische (wie z.B. Venezuela), staatskapitalistische (wie z.B. China) und tribalistische Gesellschaften (wie viele Länder Afrikas) kommen, und dabei stellen sich politische Fragen, die sich systemtheoretisch nicht begreifen oder bearbeiten lassen und die Nassehi leider vollständig ausblendet. Anregend sind seine Überlegungen für geopolitische Räume, die tatsächlich funktional ausdifferenziert sind, aber nicht über die Grenzen dieser geopolitischen Räume hinaus.

 

Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. München: C. H. Beck 2021. 384 Seiten. 26 Euro.