Aus dem Archiv: Kurt Tucholskys "Mit 5 PS"

„Man möchte“, heißt es im Refrain von Kurt Tucholskys Gedicht „Ideal und Wirklichkeit“, „immer eine große Lange, / und dann bekommt man eine kleine Dicke – / Ssälawih –!“ Was Tucholsky (geb. 1890) derart als abgeklärte Haltung wenn nicht empfahl, so doch vorführte, bezeichnet auch einen Grundkonflikt in seiner eigenen Arbeit. Denn zu seiner Tagesproduktion als literarischer Publizist, für die er heute immer noch vorrangig wahrgenommen wird, hatte er ein gespaltenes und wachsend instrumentelles Verhältnis. Sogar einen längeren Prosatext wie seine 1931 erschienenen Sommergeschichte „Schloß Gripsholm“ betrachtete er lediglich als einen Test, um zu erkunden, ob er „überhaupt ein kleines Buch durchhalten“ könne.

 

Sein lange gehegter Wunsch nach einer unabhängigen Existenz als Schriftsteller herkömmlicher Prägung erfüllte sich nicht. Als er sich nach langer Vorbereitungszeit 1931 den äußerlichen Rahmen geschaffen hatte, der ihm vorschwebte, scheiterte er an dem Widerspruch zwischen seinen traditionellen Vorstellungen von dem, was ein Roman zu sein habe, und den Erfordernissen, die ihm ein Romanstoff, der Gegenwärtigkeit beanspruchen durfte, abverlangte.

 

Der Sammlung seiner verstreut erschienenen Feuilletonbeiträge, die er 1928 unter dem Titel „Mit 5 PS“ veröffentlichte, lagen vor allem marktstrategische Überlegungen zugrunde. Zum einen wollte er mit der erneuten Verwertung der rund hundert Texte nochmals Geld verdienen; zum anderen versuchte er sich mit dem Rowohlt Verlag im Hinblick auf eine dauerhaft gesicherte Verlagsbeziehung zu akkommodieren, die ihm für die Konzentration auf ein größeres Buchprojekt unerlässlich erschien; und schließlich setzte er bei der Auswahl den Akzent bewusst auf seine literarische und nicht seine politische Publizistik, um das Publikum schon vorsichtig auf den geplanten Rollenwechsel vom Feuilletonisten zum Schriftsteller vorzubereiten.

 

1925 hatte Tucholsky noch als Alternative zum verbreiteten „horizontalen“ für einen „vertikalen“ Journalismus plädiert, der die soziale Fragmentierung überwinden solle: „Wüßte die herrschende Klasse wirklich, wie es in den Arbeiterherzen aussieht, könnte der Städter die wahren Sorgen eines Bauern fühlen, der Bauer die untiefe Masse städtischer Vorstellungen – sie würden sich vielleicht gegenseitig helfen.“ Aber nicht diesen Text nahm er in „Mit 5 PS“ auf, sondern eine Kritik am „Talmikram“ des Feuilletonisten, dessen „Rezepte“ er schonungslos aufs Korn nahm: „Fürs erste: Protze. Du mußt protzen mit allem, was es gibt, und mit allem, was es nicht gibt: mit Landschaften, Frauen, Getränken, teuern Sachen aller Kaliber, noch einmal mit Frauen, mit Autos, Briefen, Reisen und der Kraft der anderen, die du müde kennst. Es ist eine eigene Art der Lüge […].“ Seine schon zu Beginn der 1920er Jahre zu beobachtende Skepsis gegenüber dem Kulturjournalismus wich immer mehr der Resignation, die auch eine Folge der zunehmend schwindenden publizistischen Möglichkeiten in der Weimarer Republik war: „Im Rundfunk dürfen wir nicht, in der Presse sollen wir nicht, im Kino können wir nicht – bleibt das Buch“, schrieb er 1929 in einem Brief an den Theaterkritiker Herbert Ihering. Die versuchte Neubestimmung seiner Rolle im literarischen Feld war auch eine Folge des plötzlichen Tods seines langjährigen Mentors Siegfried Jacobsohn, zu dessen Andenken er dem Band „Mit 5 PS“ ihm gewidmete Gedichte voran- und nachstellte.

 

Nach einem Jurastudium, das er mit Promotion zum Dr. jur. beendete, und der Veröffentlichung des ersten längeren Prosatextes „Rheinsberg“ im Jahr 1912, hatte er im Januar 1913 begonnen, regelmäßig für Jacobsohns Blatt zu schreiben. Der gab seinem neuen Mitarbeiter sofort allen Raum, den er zur Entfaltung brauchte. Um den großen Umfang seiner Mitarbeit zu verschleiern, legte sich Tucholsky schon damals die Pseudonyme Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panter zu. Nach dem Ersten Weltkrieg, der seine publizistische Tätigkeit unterbrach, verstärkte er dieses Gespann um Kaspar Hauser, weil er den Namen Theobald Tiger exklusiv verkauft hatte: an den „Ulk“, eine humoristische Wochenbeilage, die im Mosse Verlag erschienen und für die er von 1918 bis 1920 neben der „Weltbühne“ (wie die „Schaubühne“ von April 1918 an hieß) tätig war.

 

Woher die Namen stammten? Tucholsky verriet es gleich zu Beginn von „Mit 5 PS“: „Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. […] Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozeßordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. […] Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause – und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf. Wrobel – so hieß unser Rechenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders häßlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens. Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden.“

 

Jede seiner Signaturen stand für ein eigenständiges Autorschaftskonzept, einem Markenartikel nicht unähnlich: Wrobel, den er sich als „einen essigsauren, bebrillten, blaurasierten Kerl“ vorstellte, bearbeite politische Themen, vor allem die Komplexe „Militaria“ und „Politische Justiz“; Peter Panter, der für ihn „einen beweglichen, ku­gelrunden, kleinen Mann“ abgab, machte sich als literarischer Connaisseur und Frankreichkenner einen Namen; Theobald Tigers Domäne waren das Gedicht, das Chanson und das Couplet. Kaspar Hauser wurde vor allem als Erfinder der Wendriner-Geschichten bekannt, deren nörgelnd-geschwätziger Protagonist einen typischen Vertreter der Berliner jüdischen Mittelschicht vorführte.

 

Seine „humunculi“ ließ Tucholsky zuweilen sogar öffentlich eine Fehde miteinander ausfechten. In der Praxis wurde die trennscharfe Kontur der pseudonymen Identitäten allerdings nicht immer konsequent durchgehalten. Manchmal wechselten Peter Panter und Ignaz Wrobel sogar ihre Rollen. Spätestens von 1921 an war das Geheimnis der Pseudonyme gelüftet, wie ein überliefertes Plakat beweist, mit dem eine Lesung Tucholskys beworben wurde. Auf ihm sind alle Decknamen annonciert. Mit der Veröffentlichung des Sammelbands „Mit 5 PS“ führte er 1928 die spielerische Ausdifferenzierung seiner verschiedenen „Ichs“ dann ohnehin wieder zu einer integralen Figur zusammen, auch wenn sie nun ebenfalls als „PS“ firmierte. Diese Kumulierung war nicht nur eine Anpassung an die Usancen des Buchmarkts, sie steht auch am Anfang von Tucholskys Versuch, sich der Herrschaft des journalistischen Geschäftsbetriebs soweit zu entziehen, dass er autonom über seine Autorschaft verfügen konnte. Die hinter diesem Bestreben verborgene Vorstellung von einem freien Schriftsteller, der souverän über seine Produktionsmittel herrscht, hatte Bertolt Brecht dagegen längst als illusionär verworfen: „Ihre Produktion“, schrieb er über die Lage der Schriftsteller nach Erstem Weltkrieg und Inflation“, gewinnt Lieferantencharakter. Es entsteht ein Wertbegriff, der die Verwertung zur Grundlage hat.“ Tucholsky gab Brecht in der Analyse zwar recht, in der Konsequenz, sich von der Vorstellung vom Schriftsteller als einem unverwechselbaren Verfasser wertbeständige Kulturgüter zu verabschieden und statt dessen eben als „Produzent“ zu begreifen, folgte er ihm aber nicht – im Gegenteil.

 

Tucholsky Verständnis von Autorschaft war unmittelbar verknüpft mit seinen traditionellen Ansichten von dem, was ein Roman zu sein und zu leisten habe. „Was einen höchst mäßigen Essay abgäbe“, schrieb er 1931, „das gibt noch lange kei­nen Roman. Wie überhaupt bei uns jede kleine Geschichte gern ‚Roman’ genannt wird – die Kerle sind ja größenwahn­sin­nig. ‚Krieg und Frieden’ ist ein Roman.“ Nicht von ungefähr beginnt sein Sammelband „Mit 5 PS“ daher mit der Widmung „Jakob Wassermann in Verehrung“, denn Wassermann verkörperte für Tucholsky neben Heinrich Mann genau jenen Schriftstellertypus, der ihm mit traditionell romanhaft erzählten Stoffen von zeitgenössischer Bedeutung wie in „Der Fall Maurizius“ (1928) vorbildhaft erschien, dem er aber selbst nicht zu entsprechen vermochte.

 

Von Tucholskys 1931 geplantem Roman, der den Titel „Die geschiedene Frau“ tragen sollte, sind lediglich Notizen überliefert, die er in sei­nem „Sudel­buch“ festgehalten hat, ein Feuilleton mit dem Titel „Romanwürfel“, das auf etwas mehr als zwei Druckseiten den wie ein Brühwürfel konzentrierten Extrakt enthält, und ein Verlagsvertrag. Aus seinen Notaten lassen sich noch zwei weitere Romanvorhaben destillieren: ein früheres mit dem Arbeitstitel „Kolumbus“ (1926-1928) und ein späteres („economical insanity“, um 1934). Aber auch aus diesen Plänen wurde nichts.

 

Obwohl er als Romancier scheiterte, wollte Tucholsky auf keinen Fall wieder ein Lieferant des Feuilletonbetriebs werden. Dass er am 17. Januar 1933 von den Lesern der inzwischen von Carl von Ossietzky geleiteten „Weltbühne“ endgültig Abschied nahm, war daher nicht nur der politischen Entwicklung in Deutschland geschuldet, noch nicht einmal in erster Linie. Er wollte ein „richtiger“ Schriftsteller sein, konnte es nicht, hatte es in seinen Augen lediglich zu einem beliebten und deshalb bestens bezahlten Kulturjournalisten gebracht – und zerbrach nicht nur, aber auch an diesem Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit. Am 21. Dezember 1935 nahm er sich im schwedischen Exil das Leben.

 

Literatur

Kurt Tucholsky: Mit 5 PS. Berlin: Rowohlt 1928.

Renke Siems: Die Autorschaft des Publizisten. Schreib- und Schweigeprozesse in den Texten Kurt Tucholskys. Heidelberg: Synchron 2004.

 

Dieser Text ist zuerst (mit einem hier korrigierten Schreibfehler) erschienen in: Stephan Porombka, Erhard Schütz (Hrsg.,): 55 Klassiker des Kulturjournalismus. Berlin: Siebenhaar 2008, S. 128-131.