Bürgerliche Denk- und Lebensform nach ihrem Niedergang

In dem gerade erschienen zweiten Band der Aufsatzsammlung "Die Antiquiertheit des Sexus" von Magnus Klaue ist der Rekurs auf die Errungenschaften des Bürgertums gleichsam der Cantus firmus. Eine der wesentlichen, wenn nicht gar die wichtigste bürgerliche Errungenschaft ist ihm die Ermöglichung von Individuation und zumindest das Versprechen ihrer Entfaltung. Sie hat eine kleinfamiliäre Sozialisation zur Voraussetzung, die erst mit dem Bürgertum möglich und Wirklichkeit wurde. In ihrem Verlauf lösen sich sowohl Mädchen als auch Jungen in einem durchaus schmerzhaften Prozeß von einem zunächst identifikatorischen Verhältnis zu ihren Eltern und reifen dadurch zu selbstbewußten und konfliktfähigen Erwachsenen heran.

 

In einer von Helikoptereltern überschützten Generation gelingt dieser Prozeß nach Klaues Befund nicht mehr, was zu Sozialcharakteren führe, die sich gegen jede Form Kritik abschotteten und damit ein Gefühl der Omnipotenz aufrechterhielten, gleichzeitig aber ihre Mitmenschen fortgesetzt dazu "nötigen, sich permanent um sie zu kümmern und ihnen noch dann, wenn sie Amok laufen, ständig Recht zu geben" (S. 143).

 

Sozialpsychologisch ist, wie mir scheint, das Ausbleiben von Individuation die Basis, auf der das, was Helen Pluckrose und James Lindsay in ihrer trotz mancher problematischen Vereinfachungen richtigen Kritik an "Zynische[n] Theorien" (C. H. Beck, soeben erschienen) wie der Gender-, Queer- und Intersektionalitätstheorie als "angewandten Postmodernismus" bezeichnen, überhaupt erst verfangen und sich immer weiter, weit über das akademische Milieu hinaus, gesellschaftlich ausbreiten kann.

 

So überzeugend Klaues ideologiekrische Argumentation auch ist, sie weist noch keinen Ausweg. Daß er durch "Kommunikation" (wie Jürgen Habermas meint) oder durch multiperspektivischen Blick im Austausch der Logiken verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme zu gewinnen wäre (wie systemtheoretisch inspiriert Armin Nassehi u.a. in seiner im vergangenen Jahr erschienenen "Theorie der überforderten Gesellschaft" vorschlug), ist angesichts des "Karneval[s] der Differenzen" (Klaue, S. 59), die "idealiter jeden Einzelnen zum Vertreter einer nur aus ihm selbst bestehenden Splittergruppe macht" (ebd., S. 64) so unrealistisch wie die Hoffnung, eine bürgerliche Denk- und Lebensform ließe sich gesellschaftlich wirksam einfach wieder einsetzen (dazu fehlt inzwischen jede institutionelle Basis).

 

Naheliegender ist der Gedanke von Panajotis Kondylis, daß Konflikte wieder "auf nackter existenzieller Basis" ausgetragen werden könnten, Konflikte, die dann "vermutlich noch roher und unerbittlicher als die ideologisch motivierten" sein werden (Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Weinheim 1991, S. 294). Denkt Kondylis derlei in planetarischen Maßstäben als Kampf um lebensnotwendige Ressourcen, liefert Klaue ein Beispiel dafür, was derlei schon jetzt ganz konkret und mitten in unserer Gesellschaft bedeutet kann, indem er die Fallgeschichte eines Vergewaltigers rekonstruiert und kommentiert, für den alle Frauen Prostituierte sind, "die überhaupt vergewaltigt werden können" (S. 176). Für die "bürgerliche Gesellschaft und ihre Regeln" hatte er nichts anderes übrig "als Hohn" (S. 174). Daß es sich dabei nicht um einen Einzelfall handelt, kann man seit den Kölner Ereignissen während der Silversternacht 2015 wissen.

 

Magnus Klaue: Die Antiquiertheit des Sexus. Band 2. Berlin: XS-Verlag 2022.