Entscheidung für den Außenseiter. Norbert Gstrein über seinen neuen Roman „Die Winter im Süden“ im Gespräch mit Gunther Nickel (2008)

 

NICKEL: Ihr letzter Roman, „Das Handwerk des Tötens“, ist nicht nur ein Roman über das „Kriegshandwerk“, sondern mehr noch ein Roman über das „Handwerk“ des Kriegsjournalismus und die nur schwer entwirrbare Mischung aus Fakten und Fiktionen, auf die man stößt, wenn man so etwas wie die „Wahrheit eines Krieges“ rekonstruieren will. Er handelt von den jüngsten militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan, und die spielen auch in Ihrem neuen Roman eine Rolle: Ein kroatischer Faschist, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien geflohen war, nimmt das sich abzeichnende Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu Beginn der 1990er Jahre zum Anlass, nach über vierzig Jahren in seine alte Heimat zurückzukehren. Er will dort die kroatische Unabhängigkeitsbewegung unterstützen. Was hat Sie an einer solchen Figur gereizt?

 

GSTREIN: Die Figur, die bei mir nur der Alte heißt, und auch mein Interesse an der Figur, lässt sich nicht ohne die beiden anderen Hauptfiguren verstehen. Das ist zum einen seine Tochter Marija, 1940 geboren und zum Zeitpunkt, an dem die Handlung einsetzt, in Wien lebend und gerade fünfzig geworden. Sie hat ihren Vater lange für tot gehalten und zeit ihres Lebens nur eine vage Ahnung von den „dunklen Stellen“ in seiner Vergangenheit gehabt. Zum anderen ist das ihr Mann, ein studentenbewegter „Revolutionär“ und späterer linksliberaler Journalist, den sie geheiratet hat, um mit ihm zu einer politischen Modellbiographie zu kommen und ihren Vater und damit ihre „Erbsünde“ – so katholisch stellt sich das dar – loszuwerden. Der für tot gehaltene, in Wirklichkeit aber im Exil lebende Vater bleibt in dieser Ehe immer der abwesende Anwesende: Obwohl Marija im Krieg zu jung war, um individuell Schuld auf sich zu laden, ist es für ihren Mann sehr komfortabel, sie im Streitfall auf ihre Herkunft zurückwerfen zu können und sie wieder und wieder zur Faschistentochter zu machen, mag sie dafür noch so sehr Abbitte geleistet haben. Insgesamt ist das eine Figurenkonstellation, die es mir erlaubt, zwei Leben, das der Tochter und das des Vaters, vor dem Hintergrund dreier entscheidender Daten des vergangenen Jahrhunderts zu erzählen, nämlich dem Kriegsende 1945, der Studentenbewegung 1968, und was daraus geworden ist, und dem Ende des Kommunismus in Europa 1989 bzw. in Jugoslawien ab 1991. Ich sehe den Roman auch nicht hauptsächlich als einen weiteren Roman zum Thema Jugoslawien, sondern als einen Roman, der diese Daten zusammenzubringen versucht. Jugoslawien habe ich unter anderem deswegen noch einmal als Schauplatz gewählt, weil sich die Kriege in Jugoslawien auch als nachgetragene Kriege verstehen lassen und dort die letzten Ausläufer der beiden großen Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts noch einmal blutig aufeinandergeprallt sind.

 

NICKEL: Es sind alles, Marija vielleicht ausgenommen, nicht sehr sympathische Figuren. Dabei schneidet Marijas Mann in Ihrer Darstellung noch schlechter ab als ihr Vater. Er ist weit weg von den Idealen, die ihn irgendwann einmal angetrieben haben, satt geworden und ein Opportunist, der für eine linke und gleichzeitig unter Pseudonym für eine rechte Zeitung schreibt. Kann das nicht zu Missverständnissen führen?

 

GSTREIN: Ich glaube nicht, es sei denn zu den Missverständnissen, denen man in dieser Diskussion nicht entkommt und die dann häufig gewollt sind. Politisch habe ich weder für den Alten noch für Marijas Mann Sympathien. Roberto Bolaño hat das in einem Interview, das er kurz vor seinem Tod dem spanischen „Playboy“ gegeben hat, schön ausgedrückt, indem er auf die Frage, was ihn am meisten aufrege, sinngemäß gesagt hat: „Die linke Scheiße und die rechte Scheiße.“ Sie können das auch gern umdrehen, wenn es politisch korrekter klingt: „Die rechte Scheiße und die linke Scheiße.“ An der Sache ändert es nichts. Wenn ich vielleicht mehr Sympathien für den Alten habe, so sind das ausdrücklich literarische Sympathien für eine tragische Figur, die sich verrannt hat und am Ende die Rechnung dafür zahlt. Bei Marijas Mann gibt es keine Rechnung, gibt es zum Glück natürlich auch keine Verbrechen, gibt es nur das Sandkastenspiel eines Wirrkopfs, der froh sein kann, dass seine revolutionären Ideen nur Ideen geblieben sind, gibt es das Obenaufschwimmen in jeder Situation.

 

NICKEL: Und Marija?

 

GSTREIN: Ach, Marija. Marija gerät unter die Räder. Von ihr heißt es, sie sei nach der Jungfrau benannt, und von der „Jungfrau Maria“ wiederum erfährt man, dass die Militärs in Argentinien sie im Zweiten Weltkrieg zum General der Streitkräfte ernannt haben. Marija ist der Körper, der zwischen die beiden Systeme gerät. Sie ist das „Schlachtfeld“, auf dem ihr Mann und ihr Vater bzw. dessen Stellvertreter ihre Kämpfe austragen. Sie ist die schwache Mitte in dem Motto des Romans: „it's war, baby, it's war.“

 

NICKEL: Aber sie ist es auch, die ihrem Mann, der allzu geläufig über die Wiederkehr des Faschismus in Kroatien zu schreiben weiß, am Ende ein paar sehr gute Fragen stellt, Fragen, die zwar, wie man sagt, entwaffnend sind, ihn aber leider dennoch nicht entwaffnen. Sie war gerade in Zagreb und hat dort genug erlebt, um zu erkennen, dass ihr Mann letztlich nichts, aber auch gar nichts verstanden hat.

 

GSTREIN: Ihr Mann reagiert auf eine sehr komplexe Situation mit dem ihm bekannten antifaschistischen Baukasten der Welterklärung. Obwohl er auch seinen kleinen Auftritt in Zagreb hat, ist er wohl das, was Peter Handke einmal schön einen „Fernfuchtler“ genannt hat. Er braucht im Grunde genommen gar nicht hinzuschauen, weil er schon vorher weiß, was herauskommen wird, nämlich genau das, „was die Apotheker und Bibliothekarinnen sicher goutieren“, wie es im Roman einmal heißt. Tatsächlich hat diese ein für alle Mal festgelegte Opfer- bzw. Täter-Zuweisung, die seinem Denken entspricht, dazu beigetragen, dass manche Leute und, kein Wunder, federführend Intellektuelle im Herbst 1991 und später blind für die jugoslawische Wirklichkeit waren, oft nicht einmal imstande, an einem konkreten Schauplatz wie etwa Vukovar, den Unterschied zwischen Aggressor und Angegriffenem zu erkennen. Marija dagegen hat den Krieg am eigenen Leib erfahren und reagiert nur mehr müde auf das a-priorische-Rechthaben ihres Mannes und seine Erklärungsmuster, die für eine wirkliche Erklärung längst schon zu schlicht sind und wahrscheinlich auch immer zu schlicht waren.

 

NICKEL: Schließlich ist da noch Ludwig, ein ehemaliger Polizist, dessen Freundin bei einem Einsatz von einem Halbwüchsigen erschossen wird, woraufhin er zurückschießt und den Halbwüchsigen tötet. Er wird dann aus dem Polizeidienst entlassen oder er kündigt, das wird nicht ganz deutlich, und dann heuert ihn der Alte als eine Art Söldner an. Im Vergleich zu Marijas Mann ist er geradezu liebenswert gezeichnet, obwohl er sehenden Auges bereit ist, gegen Bezahlung die politisch-militärischen Ziele eines Faschisten zu unterstützen. Sie legen es schon darauf an, Leute, die mit den politischen Ansichten von Marijas Mann konform gehen, ein bisschen zu provozieren, oder?

 

GSTREIN: Na ja, was soll ich sagen? Nicht, wenn Sie damit eine Provokation um der schieren Provokation willen meinen. Das interessiert mich nicht. Es hat eher etwas mit einer instinktiven literarischen Entscheidung für den Außenseiter zu tun. Ich mag in der Literatur – und vielleicht auch in der Wirklichkeit, das weiß ich nicht so genau – keine Figuren, die in Sicherheit sind, und Marijas Mann ist in Sicherheit, lebt in der Gewissheit, „im Augenblick des Todes eine Stimme zu haben, noch seinen Henkern die Tür weisen zu können“, wie von ihm gesagt wird. Ludwig dagegen hat keinen Boden unter den Füßen, und obwohl er dem Alten nicht viel entgegensetzt, ist seine Haltung doch bei weitem nicht so eindeutig. Er gerät erst allmählich immer tiefer in die Geschichte hinein, lässt sich fast willenlos hineinziehen, weil er zu Hause in Wien keinen Platz mehr für sich sieht. Dabei weiß er immerhin, wie haarsträubend es ist, wenn der Alte sagt, was für ein Geschenk des Himmels es gewesen wäre, wenn es am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht Hiroshima und Nagasaki, sondern Belgrad und Moskau getroffen hätte. Er weiß, dass er am falschen Ort ist, wenn er sich die antisemitischen Hetzreden eines Franziskanerpaters anhört oder wenn er wahrnimmt, dass der Alte seine Frau schlägt, aber er tut nichts dagegen.

 

NICKEL: Literarisches Interesse an Menschen in komplizierten politischen Konstellationen dominierte bei Ihnen erstmals in Ihrem Roman „Die englischen Jahre“ aus dem Jahr 1999. Sie zeigen darin, wie eine sich allzu betroffen gerierende Frau ihren „Shoa-Kitsch“ auf einen Mann appliziert, der sich am Ende nicht als jüdischer Verfolgter, sondern als Hochstapler entpuppt. Dieser Roman markiert eine deutliche Zäsur in Ihrem Werk. Sie besteht zum einen in der Hinwendung zu politisch-zeithistorischen Stoffen, zum anderen aber auch darin, politisch korrekte Lösungen nicht nur zu meiden, sondern in ihrer Unzulänglichkeit geradezu vorzuführen. Besteht darin inzwischen Ihr Selbstverständnis als Autor und in Ihren Augen eine wesentliche Aufgabe der Literatur: dem Konformismus gerade dort eine Absage zu erteilen, wo er sich als Gesellschaftskritik maskiert?

 

GSTREIN: Ich weiß nicht, was die Aufgaben der Literatur sind, aber dass ein Autor kein Sonntagsprediger sein sollte, glaube ich immerhin zu wissen. Es beginnt und endet wohl damit, welche Geschichten ich selbst gern lesen möchte und welche weniger gern oder vielleicht auch gar nicht mehr, und das hat oft genug damit zu tun, ob ein Erzähler ein Risiko eingeht, nicht um des Risikos, sondern um der Erkenntnis willen, das Risiko, sich zu irren, das Risiko vielleicht, zurückgepfiffen zu werden, weil er zu weit gegangen ist oder meinetwegen auch nur, weil jemand meint, er sei zu weit gegangen. Das andere mag seine Verdienste haben, ist aber eher für die Volkshochschule. Das gilt oft genug auch für Romane, die sich mit dem „Dritten Reich“ beschäftigen. Da kann ich nur sagen, was ich an anderer Stelle schon gesagt habe: Mir kommt es manchmal so vor, als würde das Thema benutzt wie ein Stück Seife, alle stehen am Ende mit sauberen Händen da, aber die Seife ist verschwunden, das Thema ist verschwunden, jedenfalls in seiner Dringlichkeit.

 

NICKEL: Kommen wir auf Ihren neuen Roman zurück. Der Alte ist gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nur knapp den „Massakern von Bleiburg“ entkommen, wie eine Serie von Kriegsverbrechen der „jugoslawischen Volksbefreiungsarmee“, der kommunistischen Truppenverbände, genannt wird. Er selbst stellt sich als bemitleidenswertes Opfer dar und phantasiert sich eine abstruse jüdisch-kommunistische Weltverschwörung zusammen, gegen die es sich seiner Ansicht nach zu wehren galt und zu wehren gilt. Natürlich ist jedem, der das mit Sinn und Verstand liest, klar, dass der Alte wahrscheinlich auch einiges auf dem Kerbholz hat, das mit der Genfer Konvention nie und nimmer vereinbar ist. Aber dieser Täter wird nun plötzlich zum Opfer, und tatsächlich ist er ja wohl beides: Täter und Opfer. Er rettet zwar sein Leben, aber er verliert zum Beispiel seine Familie, bei der er sich nicht melden kann, ohne sich in Gefahr zu bringen. Mir leuchtet dieser Relativismus, wenn Sie es mir so zu nennen erlauben, unmittelbar ein. Er kollidiert aber mit dem Bedürfnis, Kausalitäten und Verantwortlichkeiten klar zu bestimmen und moralisch eindeutig zu bewerten. Was meinen Sie: Sind moralisch klare Urteile in der Regel wirklich nur um den Preis einer erheblichen Komplexitätsreduktion zu haben?

 

GSTREIN: Das hängt von der Situation ab. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, zu eindeutigen moralischen Urteilen zu kommen, wenn Sie an die Konzentrationslager der Nazis denken. Ebenso wenig Schwierigkeiten werden Sie beim sowjetischen Gulag haben. In Jugoslawien war die Situation schon zwischen 1941 und 1945 ein wenig komplizierter. Natürlich gab es nach dem deutschen Überfall auf das Land den von Zagreb gelenkten und von den Nazis bald schon gegängelten faschistischen Ustascha-Staat, und natürlich gab es ein klares Vorher und Nachher, natürlich war zuerst Jasenovac, das größte Konzentrationslager auf kroatischem Boden, und dann erst Bleiburg, und es ist wie auch sonst immer unsinnig, die Opfer gegeneinander aufzurechnen. Aber zwischen diesen beiden Daten gab es auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz eine verworrene Situation, war doch der Zweite Weltkrieg dort von Anfang an auch ein Bürgerkrieg um die Macht danach, mit zwar ohne Zweifel finsteren Ustascha-Mordgesellen auf der einen Seite, aber keineswegs nur den strahlenden Freiheitskämpfern auf der anderen, als die etwa Paul Parin die jugoslawischen Partisanen darstellt. Man macht übrigens einen großen Fehler, den Goldhagen-Fehler, wenn man meint, der Faschismus sei etwas geradezu genetisch Bedingtes, und der Fehler ist gemacht worden, als man glaubte, der Gegensatz „faschistisch, antifaschistisch“ würde sich genauso sauber in der ethnischen Trennung „kroatisch, serbisch“ widerspiegeln. „Pavelićs Augen“ ist ein gutes Beispiel dafür, was die Literatur anrichten kann, wenn sie „das Böse“ noch böser macht, als es ohnehin schon ist. Das ist eine Erzählung von Drago Jančar, und darin geht es um die ausgestochenen Augen von serbischen und jüdischen Opfern, die der Ustascha-Führer Ante Pavelić in einer Schale auf seinem Schreibtisch stehen gehabt haben soll. Man stößt auf diese Geschichte in nicht wenigen Tatsachenberichten über den Ustascha-Staat. Das Problem ist nur, dass sie erfunden ist. Man kann bei Drago Jančar lesen, dass sie zum ersten Mal in Curzio Malapartes Roman „Kaputt“ als pure Fiktion auftaucht und von dort nach und nach Eingang in die „Wirklichkeit“ gefunden hat. Dabei braucht Pavelić diese Augen natürlich nicht, um eine der Schreckensgestalten des vergangenen Jahrhunderts zu sein, und ich glaube, auch ein Leser braucht eine solche Überdeterminierung nicht, um „das Böse“ als böse zu erkennen.

 

NICKEL: Hängt die Komplexität der politischen Situation auf dem Balkan nicht auch damit zusammen, dass sie sich allein über die Opposition von zwei Totalitarismen nicht erklären lässt, sondern neben religiösen und ethnischen Konflikten auch historische Bruchlinien eine Rolle spielen, die viel, viel älter sind und immer noch Wirkung zeitigen?

 

GSTREIN: Das ist richtig. Man hat gerade beim „Bund der Kommunisten“ in Jugoslawien schön verfolgen können, wie sich viele von den führenden Genossen über Nacht in lupenreine Nationalisten verwandelt haben, nachdem mit dem antifaschistischen Dogma kein großer Staat mehr zu machen war. Es scheint nur die Frage zu sein, was sich in einer Krisensituation von verantwortungslosen Politikern am besten instrumentalisieren lässt: So war der Konflikt plötzlich vor allem ein ethnischer Konflikt, aber er hätte unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit vielleicht auch genauso eine viel deutlicher religiöse Färbung haben können, als er sie auch so hatte: Die religiösen Symbole wurden auf allen Seiten mit als erstes zerstört und danach mit als erstes wieder pompös aufgebaut. Als symbolisch dafür, welche historischen Bruchlinien in der Region verlaufen, kommt mir immer der Name eines Ortes vor, der direkt an der Touristenroute in den Süden liegt: Islam mit seinen beiden Ortsteilen Islam grčki und Islam latinski, was natürlich griechisch und lateinisch heißt. Wenn Sie nach Erklärungen suchen, finden Sie also auch das, Orient und Okzident, eine Diskussion, wer „kulturell“ noch Europäer ist und wer nicht – und hüben wie drüben die Vorstellung, Europa vor den Türken bewahrt und dafür nie den richtigen Dank empfangen zu haben. Das alles führt natürlich nicht zwingend in den Krieg, lässt sich aber dorthin treiben, wenn der wichtigste Faktor dazukommt, und das ist der wirtschaftliche. Das Jugoslawien Titos war ein vom Westen subventioniertes Gebilde, das sich seinen Status als blockfreies kommunistisches Land teuer bezahlen lassen hat. Das Ende des Kalten Krieges hat auch das Ende dieser Subventionierung mit sich gebracht, und Jugoslawien ist in eine schwere Wirtschaftskrise geschlittert.

 

NICKEL: Woher rührt eigentlich Ihr reges Interesse an der Situation auf dem Balkan?

 

GSTREIN: Ich sehe „Die Winter im Süden“, wie schon gesagt, weniger als Roman, der sich zuallererst über die Schauplätze, sondern als einen, der sich eher aus den erwähnten historischen Daten erklärt. Ein Kriegsteilnehmer mit einer ähnlichen Biographie wie der des Alten, also einer, der sich im Krieg mutmaßlich schuldig gemacht hat und untergetaucht ist und nach einem halben Jahrhundert in der Hoffnung wieder auftaucht, seine verstiegenen Ideen in einer neuen politischen Situation in die Tat umsetzen zu können, hat vor einem deutschen oder österreichischen Hintergrund keine Glaubwürdigkeit. Es mag zwar noch die letzten alten Nazis in Argentinien und anderswo geben, aber das sind lebende Tote, als literarische Figuren bestenfalls gespenstische Widergänger aus einem Gruselkabinett, bloße Pappfiguren, kaum der Mühe wert, sie vor sich aufzubauen, weil sie beim kleinsten Schubser umfallen würden. Der Antikommunismus, der den Alten umtreibt, ist dagegen, auf die jugoslawische Situation bezogen, ja nicht bloßes Ressentiment, nicht nur „Faschismus und sonst nichts“, als der er unter Tito und auch später noch automatisch denunziert worden wäre, er hat damit auch einen vertretbaren Punkt, und es fragt sich nur, wie er ihn vertritt. Plötzlich ist da jedenfalls wieder eine negative Vaterfigur, bei der es sich trotz ihrer Verstiegenheit vielleicht lohnt, Interesse aufzubringen, weil nicht alles von Anfang an klar ist, eine Vaterfigur, wie sie in der deutschen Literatur längst schon ein für alle Mal „entsorgt“ ist, das hat mich interessiert, und auch deshalb noch einmal Jugoslawien.

 

NICKEL: Und woher beziehen Sie Ihre Informationen? Mit Zeitungslektüre allein ist es bei diesem Thema ja kaum getan.

 

GSTREIN: Ich habe keine Geheiminformationen, wenn Sie das meinen. Ich lese, was ich zu lesen in die Finger kriege, leider nichts in der Originalsprache oder in den Originalsprachen, wie man jetzt wohl sagen muss, und spreche mit Leuten im Land. Das ist alles, keine andere Methode, und die Gefahr, sich bei diesem Wirrwarr zu irren, ist natürlich beträchtlich, selbst wenn man sich auf Schritt und Tritt fragt, wem oder welcher Darstellung man mehr zu glauben geneigt ist und wem weniger.

 

NICKEL: Sie haben vorhin Peter Handke zitiert, und zwischen seiner und Ihrer Sicht auf die Kriege im ehemaligen Jugoslawien gibt es viel Gemeinsames, aber auch einige Differenzen. Was Sie zunächst mit Handke verbindet, ist eine erhebliche Skepsis gegenüber dem Kriegsjournalismus. Da bewegen Sie sich beide, obwohl der Name weder bei Ihnen noch bei Handke jemals fällt, in bester österreichischer Tradition, nämlich der von Karl Kraus. Mit Handke verbindet Sie auch, dass Sie die Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen keineswegs allein auf serbischer Seite sehen. Ich habe aber den Eindruck, dass Handke in Ihren Augen auch schwere Fehler macht, nicht nur Fehler strategischer Natur, sondern auch in dem, was man im militärischen Jargon „Lagebeurteilung“ nennt.

 

GSTREIN: Unser Ausgangspunkt ist, glaube ich, tatsächlich der gleiche, das Beharren auf einem genauen Blick und einer genauen Sprache, nur dass man sich bei Handke manchmal wundern musste, wohin er seinen Blick gerichtet und wovon er ihn abgewandt hat. Ich bin mir ziemlich sicher, der Anfangsirrtum, und damit meine ich nicht nur Handkes Irrtum, sondern auch den Irrtum seiner Gegner, ist ein poetologischer: Seinem Glauben an die Schöpfungskraft der Sprache, den man einem Schriftsteller ja nicht verdenken kann, der Vorstellung, die Dinge erst benennen bzw. ins Wort setzen zu müssen, bevor sie „wirklich“ existieren, ist auf der anderen Seite die nackte Wirklichkeit der Wirklichkeit entgegengestanden. Vielleicht hätte sich am Anfang alles noch aufklären lassen, wenn man das Missverständnis begriffen hätte, wenn man gesagt hätte, man redet von verschiedenen Dingen. Handke ist ja in keinem Augenblick eine Gefahr gewesen, etwas anderes zu behaupten, ist philisterhaft, und man hätte bei so viel Klarheit oder vermeintlicher Klarheit allenthalben dem Träumer sein Traumland, sein Herkommens- und Hingehensland, ruhig lassen können, ein wenig besorgt vielleicht, ein wenig kopfschüttelnd. Statt dessen gab es viel Moralismus und Scheinmoral auf der einen Seite und Handkes Trotz auf der anderen, sein Rabaukentum, an dem ich sogar einen gewissen Gefallen finden kann, weil es im besten Fall auch Spiel war und in seinen Büchern hundertmal konterkariert ist. Es gab dann aber leider auch Schüsse über’s Ziel hinaus, unhaltbare Aussagen, wie etwa die, dass Dubrovnik nie beschossen worden sei, und eine schon mehr als nur ein wenig penetrante Sympathie für die serbische Sache.

 

NICKEL: Eine Sympathie für die serbische Sache? Das klingt, mit Verlaub, ein wenig schwammig. Was hat Handke konkret getan? Hat er jemals Kriegsverbrechen geleugnet? Hat er sich mit Milošević solidarisch erklärt? Nichts dergleichen hat er getan, im Gegenteil. Und mir imponiert bis heute, dass er einer der ganz wenigen war, der 1996 unter der Überschrift „Gerechtigkeit für Serbien“ in der „Süddeutschen Zeitung“ der Kriegspropaganda in der deutschen Presse, an der sich von der „taz“ bis zur „FAZ“ so gut wie alle größeren Organe beteiligten, entschieden widersprochen hat.

 

GSTREIN: Das imponiert mir auch, hat mir auch imponiert, allein schon deshalb, weil es nicht schadet, dass einer sich in die Gegenrichtung aufmacht, wenn der Tross allzu einhellig losmarschiert – aber wie weit und wohin selbst dann am Ende? Natürlich hat Handke keine Kriegsverbrechen geleugnet, aber er hat seine Skepsis an sehr gut gesicherten journalistischen Berichten aus Bosnien so weit getrieben, dass er nicht weit von einer Verkehrung der Tatsachen entfernt war.

 

NICKEL: Ist das nicht Ihre eigene literarische Methode?

 

GSTREIN: Das mag sein, aber ich suche den Spielraum im Rahmen von sehr konkreten Fakten, an denen ich nicht rütteln würde. Sonst landet man dabei, alles in Frage zu stellen, was man nicht mit eigenen Augen gesehen, nicht mit eigenen Ohren gehört hat, um nicht davon zu reden, dass man dann auch noch die eigenen Sinne, die eigene Zurechnungsfähigkeit anzweifeln könnte. Man sollte wissen, wo man aufhören muss, und das hat Handke nicht immer gewusst. Das gilt übrigens auch für sein Verhalten.

 

NICKEL: Er war ungeschickt, da stimme ich Ihnen zu, stelle aber in Rechnung, dass die Ungeschicklichkeiten auch eine Folge der Medienkampagne gegen ihn waren. Sie haben nach dem Erscheinen Ihres letzten Romans selbst erlebt und in Ihrem Essay „Wem gehört eine Geschichte?“ anschaulich beschrieben, was es heißt, Opfer einer Kampagne zu sein. Ich finde, aus Handkes Ungeschicklichkeiten können Sie ihm noch keinen Strick drehen.

 

GSTREIN: Nein, natürlich nicht. Aber es war vielleicht ein bißchen viel davon, viel Naivität vielleicht, viel Provokation auch. Er hat Milošević in Den Haag besucht und war bei dessen Begräbnis in Požarevac, hat dort sogar ein paar Worte gesprochen, die für die anwesenden Sympathisanten Labsal gewesen sein dürften. Er war bei Karadžić in Pale. Das kann man für sich genommen jeweils vielleicht schlucken, mit schriftstellerischer Neugier erklären, mit dem Wunsch, sich selbst ein Bild zu machen, gerade eben kein Fernfuchtler zu sein, aber zusammen genommen ist das doch mehr als nur ungeschickt, insbesondere wenn man sich vorzustellen versucht, wieviel symbolisches Kapital die serbische Seite aus diesen Besuchen geschlagen hat.

 

NICKEL: Er war bei Karadžić in Pale? Das höre ich zum ersten Mal.

 

GSTREIN: Man muss vielleicht auch keine große Sache daraus machen. Ich kenne die Geschichte von Raimund Fellinger, meinem ehemaligen Lektor bei Suhrkamp, der auch Handkes Lektor war und wieder ist. Er erzählt sie, und das ist dann selbst schon fast eine Handkesche Poetisierung, indem er von den Wanderschuhen spricht, in denen er gemeinsam mit Handke bei Karadžić in Pale war, und man hofft zuerst noch, "Fellingers Wanderschuhe“ mögen nichts anderes sein als „Pavelićs Augen“, eine Fiktion. In Pale, dem gottverlassenen Ort in den Bergen oberhalb von Sarajevo, sollen sie beide für ihr bloßes Erscheinen den höchsten oder jedenfalls einen hohen Orden der unseligen Republika Srpska bekommen haben, und das lässt mich dann wirklich glauben, dass die scharfsinnige Marx’sche Beobachtung stimmt, nach der alle Dinge zwei Mal geschehen, einmal als Tragödie, einmal als Farce. Für die Tragödie lassen sich im vergangenen Jahrhundert genug Beispiele finden, noch und noch Intellektuelle und deren politisches Versagen, sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite, und damit verglichen mutet diese Don-Quichotterei von einem der ganz großen deutschsprachigen Schriftsteller, das sei unmissverständlich gesagt, und seinem treuen „Fehlersucher“ wie ein kaum wirkliches Nachspiel an.

 

NICKEL: Wann soll denn diese Begegnung stattgefunden haben?

 

GSTREIN: Das muß wohl gewesen sein, solange Karadžić im „Amt“ war, also vor dem Sommer 1996. Ich habe nie genauer nachgefragt. Ich kenne die Geschichte nur als die Geschichte mit den Wanderschuhen und den Orden und dem noch abstruseren Detail, wie schlecht das Frühstück in Bosnien war. Es ist natürlich eine verrückte Geschichte, aber man sollte nicht vergessen, dass Karadžič zu der Zeit immerhin noch als international gelittener Verhandlungspartner auftreten konnte, in Dayton dabei war und auf keiner Kriegsverbrecherliste stand. Die vollkommene Dämonisierung hat erst danach eingesetzt, mit allen zugehörigen ornamentalen Ausschmückungen, nach denen Karadžić nicht nur ein Monster, sondern natürlich auch ein erbärmlicher Lyriker und schlechter Psychiater und was nicht sonst noch alles war.

 

NICKEL: Es fragt sich natürlich: Wie verlässlich ist hier der Kolporteur? Dass der heutige Cheflektor des Suhrkamp Verlags eine solche Geschichte einfach erfunden haben könnte, glaube ich sowenig wie Sie. Aber was hat er, womöglich gar nicht absichtsvoll, verdichtet, zugespitzt, ausgeschmückt, weggelassen? Das sind ja genau die Fragen, die sich auch bei der Lektüre Ihrer Romane „Die englischen Jahre“ und „Das Handwerk des Tötens“ stellen und stellen sollen. Dort sind es immer ambivalente Figuren, aus deren Perspektive der Leser unterrichtet wird und auf deren perspektivische Einseitigkeit man als Leser ja unbedingt achten muss.

 

GSTREIN: Das ist richtig, und Sie können mir glauben, ich wäre über eine solche Auflösung der Geschichte nicht unglücklich. Natürlich glaube ich nicht, dass Raimund Fellinger das erfunden hat, aber anders als in der Wirklichkeit habe ich nur in der Literatur große Sympathien für den „unzuverlässigen Erzähler“. Tatsächlich habe ich mich nach dem „Handwerk des Tötens“ lange mit dem Gedanken getragen, eine Erzählung darüber zu schreiben. Sie sollte „Von Belgrad nach Pale“ heißen und von der Reise eines berühmten Schriftstellers durch das bosnische Kriegsgebiet handeln. Der Erzähler wäre der Begleiter gewesen, aber beim Versuch, mir vorzustellen, was sie in Gegenwart ihres beflissenen serbischen Fahrers und seiner zeitweiligen Bemerkungen zu Land und Leuten gesprochen haben könnten, während draußen die zerstörten Dörfer vor ihren Augen vorbeizogen, bin ich immer an der Realität gescheitert.

 

NICKEL: Angenommen, es stimmt wirklich, was Fellinger Ihnen über seinen Besuch mit Handke bei Karadžić erzählt hat. Wie würden Sie dann den Vorfall beurteilen?

 

GSTREIN: Das fällt mir schwer, aber am ehesten wohl als Verrücktheit, mit allem Spielraum, den das Wort läßt.

 

NICKEL: In Ihrem neuen Roman erzählen Sie, anders als in den beiden Romanen zuvor, aus auktorialer Perspektive. Und auch, wenn es zum Einmaleins des Literaturwissens gehört, dass ein auktorialer Erzähler nicht mit dem Autor identisch ist, ist die Nähe und Verbundenheit zwischen Erzähler und Autor bei einer solchen Erzählhaltung zweifellos größer als wenn eine fiktive Figur mit einer eigenen biographischen Kontur als Erzähler fungiert. Wollten Sie eine größere Nähe und wenn ja: Warum wollten Sie sie.

 

GSTREIN: Ich hatte den Eindruck, im „Handwerk des Tötens“ mit meinem skeptischen Ich-Erzähler an einem vorläufigen Endpunkt angelangt zu sein. Seine Vorsicht im Umgang mit der Wirklichkeit war so groß, dass die nächste Stufe wohl bedeutet hätte, er lässt es ganz sein und äußert sich gar nicht mehr. Die möglichen dirigierenden Ich-Erzähler, über die ich nachgedacht habe, waren entweder „naiv“ im Umgang mit dem „Bösen“, „gut“ oder selber „böse“. Ein naiver Erzähler hat viel für sich, aber die Perspektive ist schwer durchzuhalten. Den guten habe ich seines erhobenen Zeigefingers wegen ausgeschlossen, und der böse hat das Problem, dass er manchmal vielleicht nicht erklären kann, warum er seine Sünden nicht verschweigt und sie auch noch ausplaudern muss, das Problem, das auch Jonathan Littell in der Perspektive seines Romans „Die Wohlgesinnten“ hat. Mit diesen Vorbedenken ist mir die Entscheidung für die auktoriale Erzählhaltung um so leichter gefallen, als ich mich einmal entschlossen hatte, zwei Erzählstränge – Marijas Perspektive und die Ludwigs bzw. ihres Vaters – sich ohne sichtbar lenkende Hand von außen aufeinander zubewegen zu lassen. Die größere Nähe hat bei diesen wenig einnehmenden Figuren den Vorteil, dass man nicht so leicht der Gefahr unterliegt, sie zu denunzieren, sich fingerzeigend vor ihnen in Sicherheit zu bringen und davor, mit ihnen und ihren Machenschaften identifiziert zu werden. Der Nachteil ist, dass man sich daran verbrennen kann und achtgeben muss, nicht einer absurden Faszination zu unterliegen, schon allein weil man sich fälschlich einbilden könnte, die harten Burschen mit ihren Pistolen wären näher an der Realität als man selbst. Es gibt für mich dann immer wieder nur die Rückversicherung in der Literatur, die ich lese. Ich hätte zum Beispiel diese Darstellung von Sexualität, verbunden mit Gewalt, die sich durch den ganzen Roman zieht, wahrscheinlich nicht unternommen, wenn mich nicht etwas Ähnliches bei Naipaul, namentlich in seinem Roman „Guerillas“ dazu ermutigt hätte, und die antisemitischen Hetzreden meines Franziskanerpaters würde es zumindest in der Form nicht in meinem Buch geben, wenn ich sie nicht bei Juan Carlos Onetti gefunden hätte, wohlgemerkt auch da als genau das kenntlich gemacht, was sie sind. Da bin ich sogar so weit gegangen, die entsprechenden Stellen mit kleinen Modifikationen, die nötig waren, um sie meiner Erzählsituation anzupassen, wortwörtlich aus einem seiner Romane zu übernehmen, um den Schmutz nicht selbst erfinden zu müssen. Ich weiß nicht mehr, ob sie in „Leichensammler“ stehen oder in „Die Werft“, aber wenn das jemand nachprüfen will, ist es gewiss kein Schaden, dafür beide Roman zu lesen.

 

Norbert Gstrein: „Die Winter im Süden“. München: Carl Hanser Verlag 2008. 284 Seiten. 19,90 Euro.