Linke, Rechte und Geopolitik

Bei einer kritischen Rückschau auf die politische Entwicklung in Deutschland in den letzten drei, vier Jahren ist es sehr nützlich, sich nochmals Überlegungen und Argumente zu vergegenwärtigen, die Panajotis Kondylis Mitte der 1990er Jahre unter anderem in der FAZ vorgetragen hat. Sein Ausgangspunkt war die zweifellos immer noch richtige Feststellung, daß sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die geopolitische Lage grundlegend verändert hat. Damit sei eine Situation entstanden, die „sich weder durch [1.] Projektionen der Gegenwart in die Zukunft noch durch [2.] ethisch-universalistische oder durch [3.] konservativ-nationalistische Stereotypen erfassen“ lasse.

 

Den ethisch-universalistischen Standpunkt sieht er unter anderem durch eine Linke vertreten, die sich in einem kuriosen Schulterschluß mit multinationalen Konzernen die Überwindung des Nationalismus auf die Fahnen geschrieben hat. Nationalismus aber, so Kondylis Einwand, sei nicht die Ursache politischer Konflikte, denn es habe Konflikte bis hin zu Kriegen auch in vornationalen Zeiten gegeben. Als in Folge der Französischen Revolution die Formierung einer französischen Nation dazu diente, feudale Sonderrechte zu beseitigen und das dynastische Prinzip durch das Prinzip der Volkssouveränität zu ersetzen, habe der Nationalismus sogar ungeheuer zweckmäßig gewirkt. Vor Aufgaben wie diesen stehen wir heute freilich nicht mehr.

 

Dies zu übersehen wirft Kondylis denen vor, die an konservativ-revolutionäre Überlegungen der 1920er Jahre anknüpfen und weithin als „Rechte“ tituliert werden. Kollektives Leben sei jedoch, so Kondylis Einwand hier, „jahrhunderte- und jahrtausendelang ohne Nationen im neueren Sinne möglich gewesen“ und die geopolitische Lage heute eine grundlegend andere als im ausgehenden 18. Jahrhundert, als die Nationenbildung in Europa begonnen habe. „Der Kern der heutigen Weltlage ist die Ausbreitung der produzierenden und konsumierenden Massendemokratie, das ständige Wachsen der Erwartungen in der Welt und daher auch eine Verschärfung der Konkurrenz, die unter dem Druck ökologischer und demographischer Faktoren bedenklich werden kann.“ Und in dieser Situation, die ein dauerhaftes Prolongieren der Gegenwart in die Zukunft naiv erscheinen lasse, müsse vorurteilsfrei geprüft werden, ob für den europäischen Raum „die Nation und der Nationalstaat […] die beste Organisationsform zur Teilnahme am Verteilungskampf“ um knapper werdende Ressourcen biete.

 

Für den europäischen Raum sind für Kondylis vor allem zwei Entwicklungen denkbar: (a) ein Zusammenwachsen Europas zu einem handlungsfähigen und souveränen politischen Kollektiv und (b) eine partikularistische Abkapselung. Kollektive werden dabei indes „immer im Spiel bleiben, es sei denn, jede politische Organisation erübrige sich gänzlich. Ökonomistisch denkende Liberale, die damit rechnen, sollten Adam Smith aufmerksamer lesen. Ob und wie die Nation als politische oder auch kulturelle Einheit erhalten bleibt, hängt nicht von irgendeiner unwandelbaren Substanz ab, die ihr innewohnen soll, sondern von den langfristigen Erfordernissen der planetarischen Lage, genauer: von der Art und Weise, wie die Akteure diese Erfordernisse begreifen und sich darauf einstellen. Mehrere Kombinationen und Variationen sind dabei denkbar, und im Vorteil befinden sich Nationen, die auf Grund ihres Potentials auch im planetarischen Zeitalter konkurrenzfähige politische Einheiten bilden können.“

 

Unumgänglich und entscheidend für die Konstituierung und den Erhalt solcher politischen Einheiten ist für Kondylis die verbindliche Beantwortung der Frage "Wer gehört dazu - und wer nicht". "Diese Frage", unterstreicht er, "muß von jedem politischen Kollektiv gestellt und beantwortet werden, gleichviel, wie gegliedert und wie umfangreich es ist, denn sie betrifft die Konstitution selbst. Es irren sich daher diejenigen gewaltig, die meinen, mit dem Nationalstaat, diesem angeblichen Urheber aller Übel, ginge auch jede Grenze und jede Absonderung zu Ende." Das direkte Gegenteil davon könne unter Umständen der Fall sein, die den gegenwärtigen unverblüffend gleichen.

 

Panajotis Kondylis: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung. Heidelberg: Manutius 2001. Alle Zitate finden sich dort im Kapitel V. (S. 95 ff.)