Helmut Lethens Erinnerungen

Ist es denkbar, daß Bertolt Brecht, Arnolt Bronnen und Ernst Jünger Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre miteinander gesprochen haben? „Natürlich haben die sich getroffen“, meinte Heiner Müller in seiner Autobiographie „Krieg ohne Schlacht“, und erinnerte sich dabei womöglich sogar an eine Passage aus Jüngers Buch „Die Hütte im Weinberg“. Dort konnte man schon 1958 erfahren, daß Jünger und Brecht sich vor dem Zweiten Weltkrieg auf Soireen von Ernst Rowohlt einfanden, der eine besondere Freude an „pyrotechnischen Mischungen“ hatte. Wie man sich die Atmosphäre bei solchen Begegnungen vorstellen muß, erhellt Jüngers Erinnerung an ein Gespräch zwischen dem Maler Rudolf Schlichter und Brecht: „Die beiden gerieten ins Politisieren, und Schlichter verkündete wortreich seine neue Weltanschauung. Brecht hörte lange zu und sagte dann: ‘Das ist doch Scheiße.’ Worauf Schlichter in höchster Erregung auf den Tisch trommelte und schrie: ‘Ich will aber meine deutsche Scheiße.’“

 

Daß Linke mit Rechten in der Weimarer Republik sprachen, ohne daß es dazu eigens Anleitungen wie Daniel-Pascal Zorns, Maximilian Steinbeis‘ und Per Leos „Mit Rechten reden“ bedurft hätte, ist das Eine, daß sie sogar, ohne es zu bemerken, Grundüberzeugungen teilten, noch viel irritierender. Der erste, der das wahrnahm und thematisierte, war wohl Kurt Hiller, der 1932 in der radikaldemokratischen "Weltbühne" darauf aufmerksam machte, von "Linke[n] Leute[n] vor rechts" sprach und damit Nationalrevolutionäre wie Karl Otto Paetel und Otto Strasser, anders gesagt: Exponenten der Konservativen Revolution am Ende der Zwischenkriegszeit meinte. Hillers irritierender Befund hatte indes kaum Auswirkungen auf die akademische Erforschung der Weimarer Republik nach dem Zweiten Weltkrieg, sieht man von Otto Ernst Schüddekopfs „Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik. Nationalbolschewismus in Deutschland von 1918 bis 1933“ und Louis Dupeux "Stratégie communiste et dynamique consvervatrice" ab, die 1985, zehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung in Frankreich, bei C. H. Beck unter dem Titel "'Nationalbolschewismus' in Deutschland 1919-1933" in deutscher Übersetzung erschien. Doch erst Helmut Lethens Buch "Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen" veränderte 1994 schlagartig den Blick auf die politischen Antagonismen in der Weimarer Republik. Warum geschah das erst dann, warum nicht früher?

 

Wer auf diese Fragen nach Antworten sucht, wird in Lethens Erinnerungen, die nun unter dem von Brecht entlehnten Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ erschienen sind, vergeblich nach ihnen suchen. Auch eine Erklärung dafür, warum jemand wie er, der 1976 wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD/AO und aufgrund des "Radikalenerlasses" in Deutschland seine Stelle verlor, im niederländischen Berufsexil ausgiebiges Interesse an Büchern von Ernst Jünger und Carl Schmitt entwickelt hat, bleibt unscharf. Lethen erklärt es, wie übrigens auch die Nobelpreisträger James Watson und Francis Crick in ihrem Buch über die Entdeckung der Struktur der DNA, als Folge von Zufällen in kontingenten Lebensumständen: "Klack -- klack -- klack -- klack, ein Dominoeffekt innerhalb relativ kurzer Zeit. [...] Ein Drittmittelantrag hätte so nie entstehen können." Das glaubt man ihm sofort, aber „Klack“ konnte es wohl nur machen, weil diesem „Klack“ ein intensives Quellenstudium vorausgegangen war. Oder sollte tatsächlich die Erinnerung mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegende Lektüren für die 1970 erschienene Dissertation „Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des Weißen Sozialismus“ ausgereicht haben?

 

Daß es nur Zufälle waren, die seinen Lebensweg bestimmten, ist gleichsam der cantus firmus von Lethens Autobiographie, in der auch, u.a. mit Rekurs auf Georg Büchner und Friedrich Dürrenmatt reflektiert wird, was ein auf Zufällen gegründetes Leben in transzendentaler Obdachlosigkeit für politische Gefahren birgt. Selbst Propheten seien der „Macht des Zufalls“ nicht gewachsen. Zufälle seien darüber hinaus „Einfallstore magischer Weltdeutungen“, in denen „alles in ein Kausalnetz verwoben“ wird. Mehr noch: „Jede Art von Erzählform […] versucht, Zufälle mit Sinn zu verknüpfen“, und das betrifft natürlich auch die Erzählform, die Lethen für seine Erinnerungen gewählt hat, bei ihm aber nur scheinbar unabsichtlich auf die Einsicht in die „Bedeutungsleere des Zufalls“ zusteuert. Daß jene Teleologie, die die „neubürgerliche Kunstform“ der Biographie nach Siegfried Kracauers hellsichtigem Befund aus dem Jahr 1930 literarisch so uninteressant macht, bei Lethen selbst zum Thema und als Darstellungs- und Erklärungsmodell verworfen wird, unterscheidet sein Buch vom modischen Einerlei auto- oder familienbiographischer Geschichten, in denen neuerdings sogar mit unschöner Regelmäßigkeit das unergründliche Wirken transgenerationeller Kräfte behauptet wird. Die Verlockungen eines solchen Irrationalismus, der sich als Vernunft maskiert, hat Lethen zu ausgiebig studiert, um ihnen am Ende seines Leben nachzugeben.

 

Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen. Rowohlt Berlin 2020, 24 Euro.