Fragen und Anmerkungen zu einem Bestseller

Kübra Gümüşays Buch „Sprache und Sein“[1] sei „frisch wie der Morgentau“, schwärmte „Die Zeit.[2] Es sei ein „kluger Essay von literarischer Qualität und politischer Kraft“, lobte die „Neue Zürcher Zeitung“.[3] Als „leidenschaftliches, elegant geschriebenes, dringliches Plädoyer“ empfahl es Robert Habeck, einer der beiden Bundesvorsitzenden der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“, und stellte es gemeinsam mit Gümüşay in Theatern,[4] Literaturhäusern[5] und auf Literaturfestivals[6] vor. Das Buch erfährt sogar Beachtung und Zustimmung von Institutionen, bei denen man sich darüber wundern muß. So nahm es die Bundeszentrale für politische Bildung als Lizenzausgabe in ihre Schriftenreihe auf, und bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt steht es auf der Shortlist für einen mit 40.000 Euro dotierten „Sachbuchpreis für Geisteswissenschaften“. „Sprache und Sein“ genügt indes nicht einmal ansatzweise wissenschaftlichen Ansprüchen, die die Autorin für ihr Buch auch gar nicht in Anspruch nimmt. Es ist vielmehr eine politische Streitschrift gegen „die Agenda der Rechten“ (S. 117), gegen „Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und Homofeindlichkeit“ (S. 123) und im Gegenzug ein Bekenntnis zu Frauenrechten und Feminismus, zur Bekämpfung der „Klimakrise“ (S. 130) und zur Forderung der Rettung von „Ertrinkende[n] im Mittelmeer“ (S. 123).

 

„Dieses Buch“, erläutert die Verlagswerbung, „folgt einer Sehnsucht: nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert.“ Menschen werden jedoch von keiner Sprache der Welt auf Kategorien reduziert, allenfalls werden sie mit Hilfe von Begriffen kategorisiert. Das ist aber etwas anderes, und begriffliche Kategorisierungen sind auch unvermeidlich, wie Gümüşay selbst demonstriert. Sie selbst teilt die Gesellschaft, wenn auch ungemein grobschlächtig, in zwei Gruppen ein: die „Unbenannten“, mit denen sie Menschen bezeichnet, die andere Menschen reduktionistisch „Muslima“ oder „Kopftuchmädchen“ nennten und damit ihrer Individualität beraubten, und die solcherart „Benannten“. Nun sind Begriffe immer eine Bündelung wesentlicher Merkmale, (begriffliches) Denken und die konkrete Individualität des Einzelnen oder einer Sache nie identisch. Trotzdem räumt auch Gümüşay ein: „Wir brauchen Kategorien.“ (S. 133) Und tatsächlich bezeichnet sie sich auch selbst als „sichtbare Muslimin“ (S. 65) oder als „muslimische Frau“ (S. 67). Aber warum stellt es dann, wenn sie es tut, keine „Entmenschlichung“ (S. 126) dar, sondern nur, wenn es „Unbenannte“ tun? Und ist es schlüssig, daß „Unbenannte“ zum Beispiel als „Alman“, „alte weiße Männer“ (S. 49), „Kanakademic“ oder „Kartoffeltum“ (S. 159) bezeichnet und damit „benannt“ werden dürfen, weil „die Beherrschten“ damit nicht nur “offenbaren“, wie spezifisch und unterdrückend Sichtweisen sein können, die sich als neutral verstehen“, sondern „das Prinzip der Zuschreibung selbst“ verdeutlichen (S. 49)? Diese Fragen sind selbstredend rhetorisch und zeigen: Gümüşay exponiert erst einen performativen Widerspruch, um dann eine drollige Legitimation für genau das aus ihm herauszuwringen, was sie fortlaufend kritisiert.

 

Der Widersprüche und Ungereimtheiten sind damit nicht genug. Der in der ersten Auflage von Gümüşays Buch gemachte Vorschlag, künftig Werke des türkischen Schriftstellers Necip Fāzıl Kısakürek, „in der Schule neben Goethe und Schiller“ (S. 37) zu lesen, ist aus später Auflagen und der Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung immerhin verschwunden. Es wäre auch mehr als grotesk, wenn es anders wäre, war Kısakürek doch ein notorischer Antisemit, der u.a. eine türkische Übersetzung der „Protokolle der Weisen von Zion“ veröffentlicht hat. Nicht verschwunden ist dagegen mancherlei Nonsens, etwa: „Im Türkischen weine ich.“ (S. 27) Wie weint man denn „im Türkischen“? „Es (Türkisch) ist die Sprache, deren Klang mir vertraut war, noch bevor ich geboren wurde.“ (Ebd.) Was ist das für ein Ich, dem schon etwas vertraut gewesen sein soll, noch bevor es geboren wurde? Nicht verschwunden ist auch die Kritik an der Politik von Mustafa Kemal Pascha (seit 1934: Mustafa Kemal Atatürk), dem Gründer des türkischen Nationalstaats, der sein Land nach westlichem Vorbild reformierte und dazu Sultanat und Kalifat abschaffte, die lateinische Schrift einführte, die strikte Trennung von Staat und Religion durchsetzte und zu diesem Zweck u.a. auch Frauen das öffentliche Tragen von Kopftüchern verbot.

 

An Atatürks Politik gefällt Gümüşay zweierlei nicht: die Schriftreform und das Kopftuchverbot. Ihre Kritik an der Schriftreform begründet sie damit, durch sie sei „eine Schlucht zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ (S. 40) entstanden, was die Frage aufwirft, was genau ihr an der unzugänglicher gewordenen Vergangenheit denn heutzutage beschäftigungswürdig erscheint. Meint sie die fast vierhundertjährige politische Einverleibung Griechenlands in das Osmanische Reich? Oder denkt sie an den mit deutscher Unterstützung verübten Völkermord an Armeniern im Ersten Weltkrieg, den die Türkei bis heute offiziell leugnet? Was sie an der osmanisch-türkischen Geschichte interessiert, sagt sie indes nicht. Und ihre durch das Tragen eines Kopftuchs praktizierte Ablehnung des Kopftuchverbots begründet sie zunächst auch nicht, weil das „Rechenschaft abzulegen über die eigene komplexe Existenz“ erfordern würde (S. 73), Ausdruck ihrer „Spiritualität“ (S. 75) sei und damit „intime Fragen“ (S. 199) berühre. Erst in einer Fußnote wird klar, worum es ihr darüber hinaus zu tun ist: „sich durch (…) Kleidung dem Blick der Neugier der Benennenden“ verwehren (S. 198). Zustimmend zitiert sie dann aus dem Buch „Aspekte der algerischen Revolution“ von Frantz Fanon, auf dessen nationalrevolutionäre Vorstellungen von einem bewaffneten Befreiungskampf sich die „Rote Armee Fraktion (RAF)“ bezogen hat: „Ein Frau, die sieht, ohne selbst gesehen zu werden, erzeugt im Kolonisator ein Gefühl der Ohnmacht. Es gibt keine Wechselbeziehung. Sie gibt sich nicht hin, verschenkt sich nicht, bietet sich nicht dar. Der Algerier hat zu der algerischen Frau eine insgesamt klare Einstellung. Er sieht sie nicht, ja, er versucht, die Frau nicht zu beachten.“ (Ebd.) Was Fanon und mit ihm Gümüşay ausspart, ist die vollständige politische Ohnmacht der muslimischen Frauen in Algerien, denn sie hatten kein Wahlrecht. Erst nach den französischen Präsidentschaftswahlen von 1958, die Charles de Gaulle für sich entscheiden konnte, setzte die französische Kolonialmacht es 1962 für muslimische Frauen durch. Wer das unterschlägt und auch nicht erwähnt, daß das Kopftuch in Ländern wie Algerien zum System der patriarchalischen Unterdrückung von Frauen gehörte, betreibt nichts weniger als Geschichtsklitterung. Davon abgesehen, sind in Deutschland diejenigen, die Gümüşay als Unbenannte bezeichnet, keine Kolonisatoren; sie haben den gleichen Anspruch auf respektvollen Umgang, den Gümüşay für sich reklamiert.

 

Wenn sich eine Frau mit einem Kopftuch hierzulande und heutzutage in die Öffentlichkeit begibt, ist das im Übrigen auch keine intime Angelegenheit. Wenn sie sich durch Kleidung „dem Blick der Neugier der Benennenden“ entziehen will, ist das ja gerade kein Ausdruck von Vertraulichkeit. Es handelt sich vielmehr um einen demonstrativen Bekenntnisakt, der auch politische Dimensionen hat. So ist die von Gümüşay geforderte Selbstverständlichkeit, als Muslimin das Kopftuch tragen zu dürfen, geschlechtsspezifisch, denn sie betrifft nur Frauen. Ist das nicht geschlechtsdiskriminierend? Und wie läßt sich das mit dem Wunsch nach einer Sprache vereinbaren, „in der Menschen nicht an allererster Stelle einer Geschlechtsidentität zugeordnet werden“ (S. 193)?

 

In der Türkei ist die Aufhebung des kemalistischen Kopftuchverbots auch keine intime Entscheidung, sondern Teil der reaktionären Politik des gegenwärtigen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Wie sie das mit ihren sonstigen politischen Proklamationen in Einklang bringt, würde man von Gümüşay gern erfahren. Sie erklärt es jedoch nicht, obwohl der Gegensatz zwischen einem laizistischen Staat, den Atatürk aus der Türkei machte, und einem Staat mit einer Staatsreligion, der die Türkei heute nicht formal, aber faktisch wieder ist, keine Frage privater Beliebigkeit sein kann. So viel Sprachlosigkeit in einer politisch wesentlichen Frage ist in einem Buch mit dem Titel „Sprache und Sein“, vom irreführenden Anklang an Heideggers philosophisches Hauptwerk ganz abgesehen, mindestens erstaunlich, zumal dann, wenn es die Bundeszentrale für politische Bildung in ihr Programm aufnimmt und vertreibt.

 

[1] Hanser Berlin 2020. Hier zitiert nach der Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2020.

 

[2] Rezension von Katharina Teutsch, 30.1.2000.

 

[3] Rezension von Martina Läubli, 26.1.2000.

 

[4] Siehe z.B. https://theater-hamburg.org/de_DE/spielplan/kuebra-guemuesay-im-gespraech-mit-robert-h.16460619

 

[5] Siehe z.B. https://www.literaturhaus-muenchen.de/veranstaltung/sprache-und-sein/

 

[6] Siehe z.B. https://www.ndr.de/kultur/buch/Sprache-und-Sein-Neues-Sachbuch-von-Kuebra-Guemuesay,spracheundsein100.html