Die Ontologisierung der Empfindung. Christoph Türckes „Natur und Gender“

In Christoph Türckes Buch, das vom Gendern handelt, ist vom Gendern auf den ersten 120 Seiten noch gar nicht die Rede. Die Rede ist hier vielmehr davon, was jene Natur sei und wie sie ideengeschichtlich gedeutet wurde, deren Bedeutung in der Gendertheorie mindestens marginalisiert wird, wenn man die binäre Unterscheidung von „männlich“ und „weiblich“ und mit ihr auch die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ als bloßen Effekt einer herrschenden „kulturelle[n] Matrix“ (als lediglich diskursiv erzeugt) kritisiert (vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. Frankfurt/M. 1991, S. 38). „Geschlecht“, schreibt Butler, sei „keine vordiskursive anatomische Gegebenheit“. „Tatsächlich wird sich zeigen“, so Butler prospektiv weiter, „daß das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist.“ (Ebd., S. 26) Die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ ist in Butlers Augen hinfällig bzw. obsolet bzw. ideologisch; Worte wie „Frau“ oder „Frauen“ setzt sie aus diesem Grund in Anführungszeichen.

 

Gegen Butlers Position spricht für Türcke die Naturgeschichte des Menschen, für dessen Fortpflanzung es nur zwei konträr-komplementäre Keimzellenarten gebe, eben männliche und weibliche (intergeschlechtliche oder diverse Keimzellen gibt es dagegen nicht). Zur Naturgeschichte des Menschen gehöre darüber hinaus, „daß seine Rituale, Institutionen, Lautformungen […] als ungelenke Versuche“ begonnen hätten, „übermächtige Naturgewalt zu verarbeiten; daß seine diskursiven Praktiken sich erst im Laufe vieler Jahrtausende von schwachen Notwehrmaßnahmen zu naturbeherrschenden Kräften gewandelt haben; daß erst im Zuge dieser Entwicklung allmählich ein beträchtlicher Teil von Naturgewalt in selbstverwaltete soziale Gewalt überführt wurde; daß dazu auch die nie gewaltfreie Regelung der Geschlechterverhältnisse gehörte, die gewiß nicht mit einem patriarchalen ‚Diskurs‘ mächtiger Urväter begonnen hat, weil männliche Hominiden vor den Naturgewalten nicht minder angsterfüllt flohen als weibliche und zudem als die Nicht-Gebärenden auch nicht die primären Orientierungsstifter für die Familien und Clanbildung waren […]. (S. 125)

 

Zur Naturgeschichte des Menschen gehört aber nicht nur, daß er sich gegen eine übermächtige Natur zu behaupten versucht. Der Mensch selbst ist ein Naturwesen, und der Doppelcharakter des Menschen als naturbeherrschendes Naturwesen ist nicht nur philosophisch folgenreich. Denn was ist eigentlich diese Natur, die den Menschen hervorgebracht hat, der er auch angehört, gegen die er sich aber auch zur Wehr setzen muß? Das wissen wir nicht antwortet Türcke mit Kant; sie ist für den Menschen so wenig ergründbar und so wenig verfügbar wie Kants Ding an sich. „Das An sich“ bleibt „jenseits menschlicher Erfahrung“. (S. 72) „Bleibt es“, fragt er dann aber, „auch jenseits aller Erfahrung?“ „Keineswegs: Wann immer Lebewesen mit ihrer Umgebung zu tun haben, haben sie mit der Natur zu tun. Indem sie sie filtern, erscheint sie ihnen.“ (Ebd.) Und dabei handelt es sich keineswegs lediglich um diskursive Effekte (was etwa ersichtlich wird, wenn Menschen etwa an Krebs erkranken und wenn sie sterben).

 

Natur kann der Mensch bearbeiten, auch seine eigene Natur. Eine Frau, die sich als Mann empfindet, kann sich ebenso wie ein Mann, der sich als Frau empfindet, durch Dauermedikamentation und operative Eingriffe das Erscheinungsbild verändern. Den Möglichkeiten der Naturbearbeitung sind aber Grenzen gesetzt. Transfrauen verfügen über keine Eizellen, Transmänner können keine Spermien produzieren.

 

Daß dennoch die Vorstellung, Geschlecht (sex) sei kein Merkmal, das man hat, sondern eines, das man wählen kann, immer mehr Zuspruch findet, knüpft ideengeschichtlich, wie Türcke knapp umreißt, an den Konstruktivismus und die Dekonstruktion an, führt am Ende aber nur zur kuriosen Wiederkehr des Kreationismus. Jetzt ist es allerdings nicht mehr ein Gott, der die Welt nach seinen Vorstellungen erschafft, sondern der Mensch, der seinen Gefühlen folgt: „Ich spüre, also bin ich; aber auch: Ich bin so, wie ich mich spüre.“ (S. 217) Was folgt daraus? Eine „Ontologisierung der Empfindung zur ultima ratio.“ (Ebd.) Und was wiederum folgt daraus? Türcke nennt es Machbarkeitswahn. Man könnte es auch Hybris nennen.

 

Christoph Türcke: Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns. München: C. H. Beck 2021.